Monatsarchiv: Juli 2021

GROSSE MUSIKALISCHE AFFEKTE – Dirigent Constantinos Carydis, Bühnenbildnerin Phyllida Barlow und Choreograph Dustin Klein triumphieren mit Mozarts „Idomeneo“ bei den Münchner Opernfestspielen

Opfermythen gehören zu den drastischsten Erzählungen der Menschheitsgeschichte. Vor allem, wenn sich die Konstellation auf nahe Verwandtschaftsverhältnisse zuspitzt. Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern muss; Iphigenie, die ihren Bruder Orest auf dem Altar hinschlachten  soll – hier werden innere und äußere Konflikte von existenzieller Tragweite verhandelt, so auch in Mozarts „Ideomeneo“.

Bei der Titelfigur handelt es sich um den König von Kreta, der bei der Schiffsrückfahrt aus dem Trojanischen Krieg in einen heftigen Seesturm gerät. Um sich und seine Mannschaft zu retten, gelobt er dem Meeresgott Neptun, diesem den ersten Menschen zu opfern, dem er bei sicherer Landung auf Kreta begegnet. Der Sturm legt sich, das Schiff läuft sicher in den Hafen ein – und Idomeneo trifft als erstes auf seinen Sohn Idamante.

Dieser wiederum dachte, sein Vater sei auf dem Meer ums Leben gekommen, und er nutzt die Gunst der Stunde, als vermeintlicher Thronfolger Frieden zwischen den Trojanern und den Kretern zu stiften, indem er die trojanischen Kriegsgefangenen freilässt, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass er in die trojanische Prinzessin Ilia verliebt ist, die allerdings zaudert, aufgrund der bisherigen politischen Verhältnisse dem Liebeswerben nachzugeben. Und auch eine andere Prinzessin missbilligt dieses Friedens- und Begnadigungswerk – nämlich Elettra, die Königstochter von Argos, die ihrerseits Idamante liebt und der es nun gar nicht gefällt, dass Idamante den politischen Weg frei gemacht hat für seine Verbindung mit Ilia.  

Doch es kommt eh‘ anders: Vater und Sohn treffen aufeinander; Idomeneo will das Sohnopfer vermeiden und Idamante außer Landes schaffen: Er soll mit Elettra nach Argos reisen, um dort deren verloren gegangenen Königsthron zurückerobern; selbst will er dann Ilia heiraten.

Gott Neptun ist allerdings nicht so tumb, wie er von Idomeneo und dessen Berater Arbace gehalten wird, durchschaut das Spiel und schickt ein menschenfressendes Ungeheuer nach Kreta. Die noch Überlebenden drängen auf Rettung, Idomeneo bekennt sich zu seinem Gelübde und bereitet mit dem Oberpriester das Opfer vor. Doch vor dem entscheidenden Schlag meldet sich Neptuns mit markigen Posaunenklängen gestützte Stimme aus dem Off: die Götter seien befriedet, die Liebe möge siegen, Idomeneo soll abdanken und Idamante die Macht übertragen, der seinerseits Ilia heiraten soll. Eine verzweifelte Elettra bleibt zurück.

Was fiel Antú Romero Nunes, dem Regisseur der Münchner Neuinszenierung, zu diesem Menschheits- und Seelendrama ein? Nicht allzu viel. Der Chor wirkte postiert und kaum geführt, die Personenführung der Solisten blieb zurückhaltend. Es schien, als wolle Nunes der Bühnenbildnerin Phyllida Barlow das optische Primat überlassen, die ihrerseits kolossale, gewaltige und aussagekräftige Akzente setzte, ergänzt durch die phantasievollen Kostüme von Victoria Behr. Barlow schuf jenen von ihr apostrophierten „Rahmen aus mächtiger Vergangenheit, gefährlicher Gegenwart und ungewisser Zukunft“ für Katastrophen, die mit fehlendem Mut zusammenfallen, „sich starke Gefühle von Liebe und Sehnsucht einzugestehen und sich Betrug und Manipulation entgegenzustellen“, zugleich Schauräume für „die Unvorhersehbarkeit der Natur und ein nicht nachlassender halluzinatorischer Glaube an Götter als mächtige Instanz, die es zu verehren und zu besänftigen gilt“.

Andererseits hatte es auch sein Gutes, dass sich Nunes gegenüber diesen wirkmächtigen Bühnenbildern zurückhielt, sonst hätte man möglicherweise noch mehr Aktionismen über sich ergehen lassen müssen wie im Schlussballett, wenn sich zu Mozarts – von Dustin Klein phantastisch durchchoreographierten und dem Opernballett der Bayerischen Staatsoper glänzend umgesetzten – Ballo der abgedankte Idomeneo auf den nicht mehr benötigten Opfertisch hockt, sich eine Dose Bier aufmacht und eine Stulle verspeist. Fallhöhe auf dem Theater sieht anders aus!

Dass Mozarts Tänze integraler Teil dieser Festspielaufführung blieben, ist ein großer Verdienst dieser Neuproduktion; allzu oft werden sie ja weggekürzt. Doch es handelt sich hier um wertvolle Musik, die – wie auch die übrige Partitur – farbenreich und konturenscharf  vom Dirigenten Constantinos Carydis umgesetzt worden ist. Carydis machte die Disparatheit zwischen Form und Inhalt dieser Mozart-Oper deutlich: einerseits der spätbarocke Rahmen, andererseits der nachgerade explodierende Sturm und Drang des zum Zeitpunkt der Münchner Uraufführung 1781 gerade einmal 25 Jahre alt gewesenen Komponisten. Zur barocken Aufführungspraxis zählt die von Carydis hinzugezogene Continuo-Gruppe einschließlich dem von Andreas Skouras virtuos ausgeführten konzertierenden Hammerklavier, wie es nachweislich noch von Mozart selbst immer wieder gern in den von ihm geleiteten Aufführungen eingesetzt wurde und für verblüffende Farbwirkungen sorgte. Das Stürmisch-Drängende manifestierte sich in Carydis‘ Kontrastfreude, wenn er mit viel Gespür für Mozarts ausgefeilte musikalische Rhetorik das sanfte Zephir-Gesäusel gleichermaßen subtil auslotete, wie er auf der anderen Seite, etwa zu Idomemeos Hadern mit Neptun oder Elettras Verzweiflungsausbrüchen, schroffe und heftige Akzente setzte.

Hanna-Elisabeth Müller gestaltete diese Partie erfreulicherweise nicht im Strauss’schen Opernklischee als blutrünstiger Racheengel, sondern zeigte deren Vielschichtigkeit, brennend in ihrer vergeblichen Liebe zu Idamante, hoffnungsvoll in ihrem Vertrauen auf Idomeneo, abweisend-stolz im Umgang mit ihrer Rivalin und voll enttäuschtem Hass über die finale göttliche Entscheidung Neptuns, Idamante zum neuen König der Kreten auszurufen und ihm Ilia als Frau zuzuführen. Die meisten Elettra-Sängerinnen heben einzig auf diesen Racheaspekt ab, konzentrieren sich demzufolge auf die entsprechende, virtuose Abgangsarie im 3. Akt. Müller hingegen erschloss das gesamte Spektrum  ihrer Figur, legte sie mit zahlreichen Fassetten und Zwischentönen an, verfügte über eine Vielzahl an stimmlichen und darstellerischen Gestaltungsmitteln.

Sehr gut auch die Besetzung des Liebespaares mit Olga Kulchynska als Ilia mit samten zarten Piani, die überdies differenziert abschattiert wurden und der kultivierten Emily D’Angelo  in der Partie des Idamante. Auch die kleineren Rollen agierten gut: Martin Mitterrutzner bewährte sich mit dem Arbace, Caspar Singh überzeugte mit dem Oberpriester, und die schlussbildende Sentenz des Neptun sang bassmächtig Callum Thorpe. In bester Verfassung erklangen die von Stellario Fagone einstudierten Chöre.

Die Titelrolle gestaltete Matthew Polenzani mit Leidenschaft und dramatischem Feuer. Er ließ die tiefe Verzweiflung des Kreterkönigs Gestalt annehmen; seine große Arie „Fuor del mar“ im 2. Akt  gehörte zu den Sternstunden des Mozart-Gesangs: Makellose Koloraturen, optimaler Stimmsitz, mühelose Ansprache in allen Registern, differenzierte Farbgebung, hingebungsvolle Ausdruckskraft – große musikalische Affekte! DER KLASSIKKRITIKER

Premiere am 19., besuchte Aufführung am 24. Juli, weitere Aufführung am 26. Juli 2021.

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GESCHEITERTE UTOPIE VON HUMANITÄT – Humperdincks „Königskinder“ bei den Tiroler Festspielen Erl

Nur allzu gern wird er in die Schublade mit der Aufschrift „Märchenoper“ gesteckt: Wagners einstiger Bayreuther Assistent Engelbert Humperdinck, der es freilich vermochte, trotz des großen Mentors und Vorbilds seinen eigenen künstlerischen Weg zu gehen und diesen als Kompositionsprofessor in Frankfurt, später Berlin, auch seinen Studenten zu weisen. Dabei ist schon das allseits beliebte Bühnenspiel „Hänsel und Gretel“ bei näherem Hinsehen weit mehr als eine bloße Adaption der Grimm’schen Stoffvorlage. Spätestens seit Brigitte Fassbaenders ausgezeichneter Inszenierung dieser Oper in Augsburg weiß man, dass Märchen für den Komponisten Folien waren, um Kritik an den unwürdigen sozialen Verhältnissen seiner Zeit zu üben, ganz so, wie für seinen Lehrmeister Richard Wagner der Mythos zum Hintergrund für gesellschaftskritische Opernhandlungen wurde.

Mit den „Königskindern“, 1897 als Melodram entstanden und 1910 zur Volloper überarbeitet, formulierte Humperdinck gemeinsam mit seiner Librettistin Elsa Bernstein-Porges seine Weltanschauung noch radikaler: Geht die Geschichte von „Hänsel und Gretel“ dem Märchentopos gemäß bekanntlich noch gut aus, führt jener der „Königskinder“ in tödliche Abgründe und wird zum Spiegel für die Inhumanität einer rein materialistisch denkenden und handelnden Gesellschaft.

Denn Gänsemagd und Königssohn, Hexe, Spielmann, Holzhacker oder Besenbinder sind zwar das altbekannte Märchenpersonal; die Figuren verlieren jedoch ihre holzschnittartige Eindeutigkeit. Schon die Konstellation der titelgebenden „Königskinder“ ist nicht das übliche Zueinander-Finden-Sollen und –Wollen von Aschenputtel und Prinz zwecks späterer Heirat, sondern es geht hier um einen Prozess zweier Menschen unterschiedlicher Herkunft, die sich in einem Reifungsprozess aufeinander zu bewegen. Humperdinck und Bernstein-Porges veroperten das Ideal einer Gesellschaft, in der die Menschen unabhängig von Stand und Herkommen gleich sein sollen, die Gänsemagd auf der einen Seite durch Haltung und Handeln geadelt und damit königsgleich wird, der Königssohn andererseits Demut und Unterordnung lernen muss, um wahrhaft königlich zu werden. Dieser Prozess wird durch die Gesellschaft ge- und schlussendlich zerstört: Die geld- und reputationssüchtigen Bürger von Hellastadt wünschen sich ein anderes Königspaar, protzend, prunksüchtig, repräsentativ. Sie akzeptieren das Thronfolgerpaar nicht und vertreiben es aus der Stadt. Die Hexe, in Humperdincks Oper keineswegs nur eine böse, sondern auch eine beschützende Figur, welche den Hellastädtern die Ankunft des Königspaares prophezeit hat, endet auf dem Scheiterhaufen; der Spielmann, welcher die Legitimität der Königskinder bezeugte, wird gefoltert. Wie in Wagners „Tristan und Isolde“ scheitern Königssohn und Gänsemagd an ihrer kaltherzigen Umgebung und finden die Erlösung ihrer Liebe erst im Tod; der ebenfalls todesnahe Spielmann trägt den Kindern der Hellastädter Bürger auf, das humane Ideal der gescheiterten Königskinder künftig in die Welt zu tragen und auf diese Weise selber zu „Königskindern“ zu werden.

Matthew Wild, der Regisseur der Erler Festspiel-Inszenierung, hat diese Parabel sehr ernst genommen und mit sensiblem Tiefgang inszeniert. Bühnen- und Kostümbildner Herbert Murauer schuf hierfür eine Spielfläche, die sich, wiewohl ins Heute gewandt, sehr genau an den genauen Vorstellungen der Librettistin orientierte: „Ein lichtes, silbernes ‚piano‘, dahinströmend wie ruhiges, sonnendurchleuchtetes Stromwasser“ für den ersten Akt, „derb dickfäustige Wirklichkeit“ für den zweiten und „tieftraurige Öde, Wintereinsamkeit, die Ahnung des Todes“ für den dritten. Auf diese Weise ließ Wild über die drei Aufzüge hin die dramatische Intensität  anwachsen und erzählte er auf nachhaltige, bisweilen anrührende und letztlich tragische Weise die Geschichte von Utopie, Hoffnung und Scheitern, dekuvrierte die Hellastädter Bürger zu  einer widerlich aufgeblasenen,  grölenden und pöpelnden Masse Mensch und ließ schlussendlich einen an all‘ der Verderbtheit verzweifelnden Spielmann als die dritte tragische Hauptfigur der Handlung zurück. Iain MacNeill sang ihn mit Hingabe und Anteilnahme.

Überhaupt war es musikalisch ein großer Abend im Erler Festspielhaus, sieht man von dem unausgewogen intonierenden und phrasierenden Magnús Baldvinsson als Holzhacker ab. Gerard Schneider und Karen Vuong gaben ein Königskinderpaar der Superlative, dem die ausgezeichnete Altistin Katharina Magiera als Hexe nicht nachstand. Sie war dem KLASSIKKRITIKER bereits am Vorabend als exzellente „Rheingold“-Floßhilde aufgefallen, desgleichen auch im Dezember 2014 als stimmschönes Protagonistenpaar gemeinsam mit Karen Vuong in der Frankfurter Produktion von Humperdincks „Hänsel und Gretel“.

In den kleineren Partien ließen in Erl Kelsey Lauritano (Wirtstochter), Alena Sys (Ein Kind) und Jaeil Kim (Besenbinder) in besonderer Weise aufhorchen, desgleichen Franz Mayer, der den Ratsältesten mit weich verströmendem Bariton sang. Maxim Matiuschenkov hatte den Kinderchor der Schule für Chorkunst München perfekt im Griff, und der Dirigent Karsten Januschke  leuchtete die Partitur in all ihren Feinheiten farbenreich aus.

DER KLASSIKKRITIKER

Premiere am 9. Juli, besuchte Vorstellung am 17. Juli 2021

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Eindringliches Endspiel von Gier und Macht – Brigitte Fassbaender inszeniert Wagners „Rheingold“ in Erl

Am Anfang war der Naturfrevel: Wotan bricht aus der „Weltesche“ einen Ast, um sich aus diesem sein Machtsymbol, den Speer zu schnitzen – und der Baum verendet. Für die Interpretation von Wagners Endzeitdrama „Der Ring des Nibelungen“ ist das Verständnis dieses nur beiläufig im Prolog der „Götterdämmerung“ referierte Geschehen von zentraler Bedeutung, denn aus diesem Gegensatz von Mensch und Natur leitet Wagner sein bis heute aktuelles gesellschaftskritisches Potenzial des 4-teiligen Bühnenfestspiels ab: den Verrat menschlicher Liebe um der Macht, der Gier und des Besitzes Willen.

Will eine Inszenierung sinnfällig sein, muss sie also den Natur-Szenen als Gegenbilder zur machtbesessenen Gesellschaft, die sich seit Wotans Naturfrevel im Verfall befindet, den ihnen gebührenden Raum geben, und es war faszinierend zu erleben, wie schon zum urgrund-tiefen Es des einleitenden Orchestervorspiels Brigitte Fassbaender als Regisseurin des neuen „Rings“ bei den Tiroler Festspielen Erl und ihr kongenialer Bühnen- und Kostümbildner Kaspar Glarner diesen, in jüngerer Zeit meist kläglich verkümmernden Naturelementen zur erforderlichen Bedeutung verholfen hat.

Da wogen in der Tiefe des Rheins die Wasserwellen in raffinierten Lichtprojektionen (Jan Hartmann) synchron zu den Takten des so genannten (und ursprünglich von Felix Mendelssohn-Bartholdy stammenden) „Wellenmotivs“, da wird Nibelheim schwefelgelb illuminiert, da dürfen Donner den finalen Gewitter- und Froh den diesem folgenden Regenbogenzauber geradezu märchenhaft zelebrieren.

Aber es ist ein bitterböses Märchen, das uns Brigitte Fassbaender hier erzählt – eben jene Parabel Wagners, in der Arbeiter nach getaner Tat von den Besitzenden durch Vertragsbruch um den Lohn betrogen, Frauen verschachert, Underdogs gedemütigt werden und Brüder um einer Handvoll Goldstücke wegen einander umbringen. Mit scharf gezeichneten Figuren-Profilen ließ Fassbaender diesen „Vorabend“ Gestalt annehmen, getragen von kaum zählbaren Details in Personenführung, Mimik und Gestik – wenn beispielweise schon zu Beginn die drei Rheintöchter in einer Mischung aus Dekadenz und Laszivität den verunstalteten Alberich foppen, so dass sich dessen fataler Liebesfluch als dramaturgische Zuspitzung seiner zuvor erlittenen Abweisungen und Demütigungen ergibt, die Auseinandersetzung zwischen Wotan und Fricka im zweiten Bild als Kammerspiel von Strindberg’scher Dichte den Ehestreit des zweiten „Walküre“-Akts erahnen lassen, Alberichs burleske Riesenwurm- Kröte-Verwandlungen geradezu genial und bar jeglicher Peinlichkeit szenisch umgesetzt sind und zum Auftritt der in einem hocheleganten erdbraunen Kostüm  gewandeten Erda sofort eine erotisierende Spannung zwischen ihr und Wotan erkennbar wird, welcher sie bekanntlich in der Vorgeschichte zur „Walküre“ vergewaltigen und auf diese Weise seine Lieblingstochter Brünnhilde zeugen wird.

Überhaupt war in diesem „Rheingold“ ein nur selten zu erlebendes Ineinander-Greifen von kluger Personenführung, charakterisierenden Kostümen bei allen Figuren und der Requisite festzustellen. Da zwängen sich die „Riesen“ Fasolt und Fafner, noch den Baustellenschmutz an ihren klobigen Knobelbechern, in einen schlecht sitzenden schwarzen Anzug, um Wotan ihre Rechnung fürs eben fertig gewordene Walhall zu präsentieren; Fasolt drückt dabei der verdutzten Göttergattin Fricka noch unbeholfen ein wohl selbst gepflücktes Blumensträußchen in die Hand. Besagte Götterburg steht offensichtlich kurz vor ihrem Erstbezug; mit zum Inventar gehört eine Vogelvoliere, in der Wotans Raben auf ihren späteren Einsatz vor Siegfrieds Ermordung in der „Götterdämmerung“ warten, und der titelgebende Ring ist kein Schmuckstück, sondern ein Schlagring.       

Brigitte Fassbaender, der im Vorfeld zur Erler Premiere für ihr künstlerisches Lebenswerk der Preis der Deutschen Schallplattenkritik überreicht worden ist, hat eben schon im „Rheingold“ den „Ring“ im Gesamten vor Augen und schöpfte aus ihrer immensen Bühnenerfahrung; mitunter frug man sich, ob sie mit den Sänger/innen, die durchweg exzellent deklamierten und feinste Ausdrucksnuancen gestalteten, auch in der Art eines musikalischen Coachings gearbeitet hatte – wenn etwa  Thomas Faulkner den Fasolt mit belcantil abschattierter Kraftfülle und anrührenden Zwischentönen sang und seinem ergreifenden endgültigen Abschied von Freia lyrische Bögen wie im Liebesschmerz von Schuberts „Winterreise“ verliehen hat, Brian Michael Moore die oft unterbelichtete Partie des Froh aufwertete und Manuel Walser als Donner  seinen kernigen, weit ausladenden Bass kultiviert zur Geltung brachte. Auch der Bassist Anthony Robin Schneider staffierte seine Partie des Fafner mit wuchtigem Stimmkörper und differenzierter Artikulation aus; Craig Colclough beeindruckte als Alberich im Liebes- und Ringfluch.

Die durchtrieben-mephistofelische Figur des Loge fand in Ian Koziara einen exzellenten Sachwalter: ungemein pointiert, mit flexibler und elastischer Stimmführung, eine Spur Metall im Timbre und gestalterisch durchweg überzeugend; George Vincent Humphrey konnte als Mime im Vergleich nicht ganz so hoch punkten. Höchst eindrucksvoll hingegen der Wotan von Simon Bailey: Angefangen von seinem stentoralen „Vollendet das ewige Werk“ schlug er das Publikum in seinen Bann und fokussierte das Spiel auf sich bis zur finalen Verhöhnung der Rheintöchter.

Diese erwiesen sich als homogenes Ensemble, brillierten aber auch in ihren Einzelleistungen: die geradezu betörende Illa Stapie als Woglinde, die mit leuchtenden Höhen bekrönte Wellgunde (Florence Losseau) und die schöne Altstimme von Katharina Magieras Flosshilde. Volumenreich und weiträumig im Spektrum der vokalen Färbungen sang Dshamilja Kaiser eine ausgezeichnete Fricka; Im Timbre mädchenhaft zart und doch sehr gehaltvoll überzeugte Monika Buczkowska als Freia. Ergreifend schließlich: Judita Nagyovás Warnung vor dem nahenden Ende, der Götterdämmerung.

Am Dirigentenpult des exzellent disponierten und mit seinen 6 Harfen zudem gemäß Wagners Vorgaben besetzten  Erler Festspielorchester führte Eric Nielsen differenziert, intensiv und schattierungsreich durch das Werk, getragen von starker Innenspannung und bereichert durch ein instrumentales Farben- und Nuancenspiel, das Wagners klangästhetische Brückenfunktion zum Impressionismus deutlich machte. Dieses „Rheingold“ machte Lust auf mehr!

DER KLASSIKKRITIKER

Premiere am 10, besuchte Vorstellung am 16. Juli 2021, nächste Aufführung am 18. Juli 2021. Den gesamten „Ring des Nibelungen“ wird es in Erl im Jahr 2024 zu sehen geben.

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EXISTENZIELLE EINSAMKEIT OHNE ENTRINNEN – Krzysztof Warlikowskis bedrückende Neuinszenierung und Kirill Petrenkos berückendes Dirigat von Wagners „Tristan und Isolde“ bei den Münchner Opernfestspielen

Zu den nachgerade absurden gattungstypologischen Zuordnungen der Musikgeschichte gehört jene von Wagners „Tristan und Isolde“, welche vom Komponisten hintersinnig als „Handlung in drei Aufzügen“ bezeichnet wurde, obwohl in vier Stunden so gut wie nichts passiert. Jedenfalls nichts im Sinne des Opernverständnis’ um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als Wagner dieses sowohl dramaturgisch als auch musikalisch revolutionäre Stück schrieb. Äußere Aktionen sind auf ein Minimum reduziert – umso mehr verdichtet sich das Geschehen auf jenen seelischen Prozess, welcher Tristan und Isolde im Innersten bewegt: Die Erkenntnis, dass ihr gegenseitiges Liebesverlangen, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl scheitern muss, da ihre Beziehung gesellschaftlich im vollen Wortsinn „unmöglich“ ist; erst der ersehnte und schließlich herbeigeführte Tod vermag die hindernden Schranken nieder zu reißen.

Die geschmackvoll arbeitende Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szczesniak schuf hierfür einen Bühnenraum, der für die handelnden Personen kein Entrinnen zulässt. Denn für den Regisseur der Neuinszenierung an der Bayerischen Staatsoper, Krzysztof Warlikowski, „ist Einsamkeit das zentrale Thema dieser Oper“, angesiedelt in einer Nachkriegszeit und ungelöst durch jene „tabubrechende, transgressive Liebe während des Krieges“, wie sie fatalerweise das titelgebende Paar dieses „traurig‘ Stücks“ (wie es Wagner in seinen „Meistersingern“ selbstzitierend nannte) aneinander fesselt und es permanent mit den eigenen inneren Unsicherheiten und Traumata konfrontiert. Diese werden durch Videoeinspielungen visualisiert, beispielweise wenn sich Isolde während des großen Liebesduetts im zweiten Akt an ihre erzwungene Ankunft auf König Markes Schloss erinnert und, ruhelos auf dem Ehebett liegend, von ihren Gedanken gemartert wird, bis endlich Tristan – verbotenerweise – ihr Schlafzimmer betritt.

Überdies visualisiert Warlikowski Nebenfiguren, die bei Wagner nur am Rande in Erscheinung treten, oft auch nur in Nebensätzen genannt sind. Dies glückte ihm im ersten Akt, wenn Marke mit „reichem Hofgesinde“ Isoldes Schiff betritt – skurril anmutende, gealterte Hofschranzen neben willenlos gewordenen Uniformträgern; auch im zweiten, wenn eine veritable, Jagdhornblasende Gesellschaft im Begriff ist, auf die Pirsch zu gehen und die Bühnenmusik nicht nur atmosphärisch zu vernehmen ist. Rätselhaft hingegen blieb der Einfall des Regisseurs im dritten Aufzug, den verwundeten Tristan inmitten einer Kaffeetrinkenden Kinderschar zu platzieren und einen anderen Kinderstatisten auf dem Siechbett zu positionieren; beide wechseln dann im Verlauf wiederholt zwischen Tisch und Bett hin und her. Sollten diese Kinder das „Volk, getreu dem trauten Herrn“ darstellen, das während Tristans Abwesenheit und Aufenthalt in Cornwall auf Burg Kareol nach dem Rechten gesehen hatte?

In Warlikowskis subtiler und dabei hochgradig differenzierter Personenführung wurde die suizidale Todessehnsucht des Protagonistenpaares immer wieder intensiv vorgeführt – korrelierend mit jener Verneinung des Lebenswillens, die wie ein roter Faden Schopenhauers Abhandlung von der „Welt als Wille und Vorstellung“ durchzieht, welche Wagner in seiner Zürcher Zeit wie elektrisiert verschlungen hatte und  in seinem „Tristan“ künstlerisch rezipierte, desgleichen die poetische Sublimierung Novalis’ von der Überwindung des lieblos-irdischen Tag-Geschehens durch Nacht und Tod. Wagner thematisiert dies fortwährend im großen Liebesduett des zweiten Aufzugs – und Warlikowski zeigt dies, indem Tristan und Isolde schon zu ihren Worten „Ohne Enden, Ohne Trennen“ im Begriff sind, Hand an sich zu legen, dann aber durch den überraschend eintretenden König Marke gehindert werden. Dass sich Tristan wenig später in selbstmörderischer Absicht von Melot tödlich verwunden lässt, gewinnt durch diesen Regieeinfall an dramaturgischer Schärfe, wie auch Isoldes „Liebestod“ nicht als milde Verklärung, sondern als aktiver Giftselbstmord gezeigt wird; die Kampfszenen lässt Warlikowski dabei nicht als Realhandlung stattfinden, sondern als Vision der sterbenden Isolde.

Es ist also eine auf das Innere und Innerste gerichtete Inszenierung, die der musikalischen Gestaltung allen nur denkbaren Raum lässt für Wagners exzessive Behandlung des Orchesters als Kommentator des Bühnengeschehens, vergleichbar dem Chor in der griechischen Tragödie. Gerade der „Tristan“ mit seinen musikalischen Sogwirkungen, seinem Verweigern von Tonartbestätigungen im Sinne der damals noch gültigen Harmonielehre-Gesetze (was dem Zuhörer den Boden unter den Füßen zu entziehen vermag), seinen kleinstzelligen melodischen Übergängen, bei welchen ein Motiv aus dem anderen fließt, seinem Ausloten der Konfliktpotenziale zwischen Rhythmik und Metrik und seiner gleichsam fluoreszierenden Klangfarbenbehandlung, die schon den Impressionismus ahnen lässt, entfaltet seine Wirkung primär aus dem Orchester und die in das symphonische Geschehen integrierten Singstimmen. Was hier Kirill Petrenko am Pult des glänzend disponierten Bayerischen Staatsorchesters vollbrachte, grenzte an Klangzauberei. Herrlich, wie es in allen Stimmgruppen blühte und sang; von besonderer Qualität war der Klangteppich, den Petrenko zu Brangänes – von Okka von der Damerau hingebungsvoll gesungenen – Tageliedern mit seinem aufgefächerten Streicherapparat und dem Stimmengeflecht aus Solo- und Tuttistimmen ausbreitete. Um sich an solch eine orchestrale „Tristan“-Intensität und Subtilität zu erinnern, muss DER KLASSIKKRITIKER sehr weit zurückdenken (und er landet dann bei Böhm und Kleiber).

Das stimmliche Geschehen zentrierte sich um Jonas Kaufmann in der Titelrolle, der seinen zunehmend heldisch-dramatisch gewordenen Tenor ausgezeichnet führt, packend gestaltet und auch die gefürchteten Wahnmonologe (mit einer markerschütternden Exclamatio zu „Siehst du es nicht?“) im 3. Akt hoch kultiviert gesungen hat; sein „Dem Land, das Tristan meint“ war von selten an dieser Passage zu hörender Zartheit. Darstellerisch stand ihm Anja Harteros als Isolde nicht nach; stimmlich überzeugte sie in den lyrischen Passagen („So stürben wir, um ungetrennt“, „Mild und leise“) mehr als in den mitunter zu sehr forcierten dramatischen („Fluch dir, Verruchter“, „Tod uns beiden!“). Vokale Stimmkultur vom Feinsten war von Mika Kares als König Marke zu vernehmen. Wolfgang Koch gab markant und voller Substanz den Kurwenal, Sean Michael Plumb einen gepflegten Melot, Dean Power sang geradezu feurig den Hirten,  Manuel Günther gefiel in den heiklen Kantilenen des jungen Seemanns und Christian Rieger agierte kompetent als Steuermann. Für die stimmkräftigen Seemannschöre aus dem Off sorgte in bewährter Qualität Stellario Fagone.

DER KLASSIKKRITIKER    

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