Opfermythen gehören zu den drastischsten Erzählungen der Menschheitsgeschichte. Vor allem, wenn sich die Konstellation auf nahe Verwandtschaftsverhältnisse zuspitzt. Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern muss; Iphigenie, die ihren Bruder Orest auf dem Altar hinschlachten soll – hier werden innere und äußere Konflikte von existenzieller Tragweite verhandelt, so auch in Mozarts „Ideomeneo“.
Bei der Titelfigur handelt es sich um den König von Kreta, der bei der Schiffsrückfahrt aus dem Trojanischen Krieg in einen heftigen Seesturm gerät. Um sich und seine Mannschaft zu retten, gelobt er dem Meeresgott Neptun, diesem den ersten Menschen zu opfern, dem er bei sicherer Landung auf Kreta begegnet. Der Sturm legt sich, das Schiff läuft sicher in den Hafen ein – und Idomeneo trifft als erstes auf seinen Sohn Idamante.
Dieser wiederum dachte, sein Vater sei auf dem Meer ums Leben gekommen, und er nutzt die Gunst der Stunde, als vermeintlicher Thronfolger Frieden zwischen den Trojanern und den Kretern zu stiften, indem er die trojanischen Kriegsgefangenen freilässt, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass er in die trojanische Prinzessin Ilia verliebt ist, die allerdings zaudert, aufgrund der bisherigen politischen Verhältnisse dem Liebeswerben nachzugeben. Und auch eine andere Prinzessin missbilligt dieses Friedens- und Begnadigungswerk – nämlich Elettra, die Königstochter von Argos, die ihrerseits Idamante liebt und der es nun gar nicht gefällt, dass Idamante den politischen Weg frei gemacht hat für seine Verbindung mit Ilia.
Doch es kommt eh‘ anders: Vater und Sohn treffen aufeinander; Idomeneo will das Sohnopfer vermeiden und Idamante außer Landes schaffen: Er soll mit Elettra nach Argos reisen, um dort deren verloren gegangenen Königsthron zurückerobern; selbst will er dann Ilia heiraten.
Gott Neptun ist allerdings nicht so tumb, wie er von Idomeneo und dessen Berater Arbace gehalten wird, durchschaut das Spiel und schickt ein menschenfressendes Ungeheuer nach Kreta. Die noch Überlebenden drängen auf Rettung, Idomeneo bekennt sich zu seinem Gelübde und bereitet mit dem Oberpriester das Opfer vor. Doch vor dem entscheidenden Schlag meldet sich Neptuns mit markigen Posaunenklängen gestützte Stimme aus dem Off: die Götter seien befriedet, die Liebe möge siegen, Idomeneo soll abdanken und Idamante die Macht übertragen, der seinerseits Ilia heiraten soll. Eine verzweifelte Elettra bleibt zurück.
Was fiel Antú Romero Nunes, dem Regisseur der Münchner Neuinszenierung, zu diesem Menschheits- und Seelendrama ein? Nicht allzu viel. Der Chor wirkte postiert und kaum geführt, die Personenführung der Solisten blieb zurückhaltend. Es schien, als wolle Nunes der Bühnenbildnerin Phyllida Barlow das optische Primat überlassen, die ihrerseits kolossale, gewaltige und aussagekräftige Akzente setzte, ergänzt durch die phantasievollen Kostüme von Victoria Behr. Barlow schuf jenen von ihr apostrophierten „Rahmen aus mächtiger Vergangenheit, gefährlicher Gegenwart und ungewisser Zukunft“ für Katastrophen, die mit fehlendem Mut zusammenfallen, „sich starke Gefühle von Liebe und Sehnsucht einzugestehen und sich Betrug und Manipulation entgegenzustellen“, zugleich Schauräume für „die Unvorhersehbarkeit der Natur und ein nicht nachlassender halluzinatorischer Glaube an Götter als mächtige Instanz, die es zu verehren und zu besänftigen gilt“.
Andererseits hatte es auch sein Gutes, dass sich Nunes gegenüber diesen wirkmächtigen Bühnenbildern zurückhielt, sonst hätte man möglicherweise noch mehr Aktionismen über sich ergehen lassen müssen wie im Schlussballett, wenn sich zu Mozarts – von Dustin Klein phantastisch durchchoreographierten und dem Opernballett der Bayerischen Staatsoper glänzend umgesetzten – Ballo der abgedankte Idomeneo auf den nicht mehr benötigten Opfertisch hockt, sich eine Dose Bier aufmacht und eine Stulle verspeist. Fallhöhe auf dem Theater sieht anders aus!
Dass Mozarts Tänze integraler Teil dieser Festspielaufführung blieben, ist ein großer Verdienst dieser Neuproduktion; allzu oft werden sie ja weggekürzt. Doch es handelt sich hier um wertvolle Musik, die – wie auch die übrige Partitur – farbenreich und konturenscharf vom Dirigenten Constantinos Carydis umgesetzt worden ist. Carydis machte die Disparatheit zwischen Form und Inhalt dieser Mozart-Oper deutlich: einerseits der spätbarocke Rahmen, andererseits der nachgerade explodierende Sturm und Drang des zum Zeitpunkt der Münchner Uraufführung 1781 gerade einmal 25 Jahre alt gewesenen Komponisten. Zur barocken Aufführungspraxis zählt die von Carydis hinzugezogene Continuo-Gruppe einschließlich dem von Andreas Skouras virtuos ausgeführten konzertierenden Hammerklavier, wie es nachweislich noch von Mozart selbst immer wieder gern in den von ihm geleiteten Aufführungen eingesetzt wurde und für verblüffende Farbwirkungen sorgte. Das Stürmisch-Drängende manifestierte sich in Carydis‘ Kontrastfreude, wenn er mit viel Gespür für Mozarts ausgefeilte musikalische Rhetorik das sanfte Zephir-Gesäusel gleichermaßen subtil auslotete, wie er auf der anderen Seite, etwa zu Idomemeos Hadern mit Neptun oder Elettras Verzweiflungsausbrüchen, schroffe und heftige Akzente setzte.
Hanna-Elisabeth Müller gestaltete diese Partie erfreulicherweise nicht im Strauss’schen Opernklischee als blutrünstiger Racheengel, sondern zeigte deren Vielschichtigkeit, brennend in ihrer vergeblichen Liebe zu Idamante, hoffnungsvoll in ihrem Vertrauen auf Idomeneo, abweisend-stolz im Umgang mit ihrer Rivalin und voll enttäuschtem Hass über die finale göttliche Entscheidung Neptuns, Idamante zum neuen König der Kreten auszurufen und ihm Ilia als Frau zuzuführen. Die meisten Elettra-Sängerinnen heben einzig auf diesen Racheaspekt ab, konzentrieren sich demzufolge auf die entsprechende, virtuose Abgangsarie im 3. Akt. Müller hingegen erschloss das gesamte Spektrum ihrer Figur, legte sie mit zahlreichen Fassetten und Zwischentönen an, verfügte über eine Vielzahl an stimmlichen und darstellerischen Gestaltungsmitteln.
Sehr gut auch die Besetzung des Liebespaares mit Olga Kulchynska als Ilia mit samten zarten Piani, die überdies differenziert abschattiert wurden und der kultivierten Emily D’Angelo in der Partie des Idamante. Auch die kleineren Rollen agierten gut: Martin Mitterrutzner bewährte sich mit dem Arbace, Caspar Singh überzeugte mit dem Oberpriester, und die schlussbildende Sentenz des Neptun sang bassmächtig Callum Thorpe. In bester Verfassung erklangen die von Stellario Fagone einstudierten Chöre.
Die Titelrolle gestaltete Matthew Polenzani mit Leidenschaft und dramatischem Feuer. Er ließ die tiefe Verzweiflung des Kreterkönigs Gestalt annehmen; seine große Arie „Fuor del mar“ im 2. Akt gehörte zu den Sternstunden des Mozart-Gesangs: Makellose Koloraturen, optimaler Stimmsitz, mühelose Ansprache in allen Registern, differenzierte Farbgebung, hingebungsvolle Ausdruckskraft – große musikalische Affekte! DER KLASSIKKRITIKER
Premiere am 19., besuchte Aufführung am 24. Juli, weitere Aufführung am 26. Juli 2021.