WIEDERENTDECKUNG AUS DEM EXPRESSIONISMUS – Die Deutsche Oper Berlin zeigt „Antikrist“ von Rued Langgaard

Ist die dänische Musikgeschichte per se in unserer Repertoirepflege eher unterbelichtet, geriet Rued Langgaard (1893-1952) auch im eigenen Lande infolge seiner selbst gewählten künstlerischen wie kulturpolitischen Außenseiterposition lange in Vergessenheit. Seine bereits in den 1920er Jahren geschaffene Oper „Antikrist“ wurde zu seinen Lebzeiten nie szenisch und auch in konzertanter Version nicht vollständig uraufgeführt und erst durch eine Studioaufnahme aus dem Jahr 1980 dank des Einsatzes des dänischen Dirigenten Michael Schonwandt wiederentdeckt. 1999 erfolgte die szenische Uraufführung in Innsbruck; nun inszenierte Ersan Mondtag das hoch expressionistische Bühnenwerk für die Deutsche Oper Berlin.

Als sein eigener Bühnen- und Co-Kostümbildner gelangen ihm ausdrucksstarke, kraftvolle Bildwelten für dieses stark assoziative Musiktheaterstück. Es ist eine Reflexion der dänischen Lebensanschauungsdebatte aus der Zwischenkriegszeit, wie sie ähnlich auch in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geführt worden ist. Kulturpessimismus und desillussionierte Endzeitstimmungen prägten Literatur, Malerei und Musik gleichermaßen, Apokalyptisches wurde zur Folie für Handlungen oder Erzählungen von „Helden“ bar jeglichen Identifikationsanreizes.

Ausgangspunkt für Langgaards „Antikrist“ war das gleichnamige Gedicht von P. E. Benzon aus dem Jahr 1907 und ein 1919 erschienenes, pseudowissenschaftliches Buch von Einar Prip, das sich mit der Gegenwart des Antichristen in der menschlichen Welt beschäftigt hatte. Aus diesen literarischen Vorlagen, ergänzt durch biblische Quellen, insbesondere der Offenbarung des Johannes, formte der Komponist sein eigenes Libretto und versah es mit den Titeln „Kirchenoper“ wie auch „Szenen des Jüngsten Gerichts“.

Damit hebt Langgaard das Stück auf die Ebene des Sakralen, wie dies schon 40 Jahre zuvor der von ihm bewunderte Richard Wagner mit dem „Parsifal“ getan hatte. Und ähnlich, wie Klingsor zu Beginn des zweiten Aufzugs auf düster-dämonische Weise Kundry heraufbeschwört, beschwört im Prolog Langgaards Luzifer den Antichristen aus dem Abgrund herauf,  auf dass dieser sich mit Genehmigung des Allmächtigen der verkommenen und vom Glauben abgefallen Menschheit in verschiedenen Allegorien offenbare. Der amerikanische Bariton Thomas Lehman gestaltete die Teufelsgestalt mit großvolumiger stimmlicher Potenz.

Überhaupt wurde die Wiederentdeckung von einer beeindruckenden Ensembleleistung getragen. Irene Roberts verlieh der Verkündung von Unsicherheit und Verwirrung der Menschen dramatische, starke Akzente; Valeriia Savinskaia als ihr Echo sekundierte mit belcantilem Silberglanz. Den „Mund, der große Worte spricht“, eine Metapher der Ende 1920er Jahren immer mehr um sich greifenden rechtsextremistischen Propaganda, sang Clemens Bieber starkstimmig und bedrohlich, und Maire Therese Carmack, eine Stipendiatin der New York Opera Foundation, gestaltete die Allegorie der Missmut mit erschütternden Klagegesang.

Mit einer die orgiastische Klangfarbenfantasie von Richard Strauss‘ „Frau ohne Schatten“ weiterführenden Opulenz realisierte Langgaard die Allegorie von der Großen Hure und vom Tier in Scharlach. Florina Stucki faszinierte dabei in Deklamation und Linie; der exzellente Tenor Aj Glueckert ließ die gefährliche Durchtriebenheit von Wagners Loge anklingen. Der Hass, von Joel Allison dramatisch akzentuiert, heizt das Bühnengeschehen weiter an, bis sich schließlich Luzifer dazu aufschwingt, Gott für tot zu erklären und die Lebenden und die Toten zu richten.

Hier nun allerdings wendet Langgaard die für den Expressionismus typische destruktive Blickrichtung und lässt mit der Stimme Gottes dem Treiben des Antichristen Einhalt gebieten. Ein apotheotischer, dem Sonnenhymnus aus Schönbergs „Gurreliedern“ nahestehender Chor, in Berlin von Jeremy Bines sehr gut einstudiert, setzt einen versöhnlichen, den Frieden Gottes besingenden Schlusspunkt.

Die insgesamt sechs Allegorien, die Langgaards Oper tragen, werden von ausgeprägten sinfonischen Zwischenspielen voneinander abgegrenzt, welche der Dirigent Stefan Zilias am Pult des stets präsenten Orchesters der Deutschen Oper Berlin spannungsvoll aufgeladen hatte. Und auch Ersan Mondtag hatte hierfür die überzeugende Idee, das instrumentale Geschehen durch Tänzer in der schlüssigen  Choreografie von Rob Fordeyn zu reflektieren, wobei nochmals die fantasievoll bemalten Ganzkörperkostüme, kreiert vom Regisseur selbst und Annika Lou Hermann, ihre Wirkung entfalten.

DER KLASSIKKRITIKER

Premiere am 30. Januar 2022, besuchte Vorstellung am 10. Februar 2023; Folgeaufführungen: 12. und 24. Februar 2023.

Weitere Informationen: https://deutscheoperberlin.de/de_DE/calendar/antikrist.17183322

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