GAWAN WEILTE DOCH! – Harrison Birtwistles Oper „Gawain“ bei den Salzburger Festspielen

Pointiert formuliert, setzt der 1934 in England geborene Komponist Harrison Birtwistle mit seiner Oper „Gawain“ dort an, wo Wagner mit seinem „Parsifal“ aufhörte. Beide Opern benutzen den Topos von König Artus und dessen Tafelrunde als Handlungsfolie für den doppelten Bewährungsweg ihrer Protagonisten, den alle Titelhelden der mittelalterlichen Artus-Romane als Ausdruck ihrer Erkenntnis- und Entwicklungsprozesse zu durchlaufen haben. Und beide Komponisten nutzen das nur auf den ersten Blick so ferne Mittelalter, um mit den archetypischen Figuren Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Zuständen  zu üben, wobei der Frevel des Menschen an der Natur und der Liebe eine wichtige Position einnimmt. Während Wagner allerdings im „Parsifal“ den dahinsiechenden Gralsrittern die Erlösung verheißt und durch den „Karfreitagszauber“ der Einklang zwischen Mensch und Natur wieder als kraftspendende Hoffnung im Raum steht, scheint für Birtwistles Artusritter nach mehr als 100 Jahren weiter fort geschrittener Menschheitsgeschichte hierfür kein Raum mehr zu sein. Das Weltgeschehen wurde zum „Spiel, das keiner gewinnt“, wie es im zweiten Akt fatalistisch formuliert ist, und der sagenumwobene Held Gawain, von dem es noch in Wagners „Parsifal“ heißt, er „weilte nicht“, um sich – kaum mit der neuen Arznei für Amfortas angekommen – wieder zu neuen Taten aufzuschwingen, weilt bei Birtwistle eben doch, um nach einem Jahr zu der Erkenntnis zu gelangen, nicht jener Held zu sein, für den man ihn gerne halten würde: „I am not that hero. No one ever said so“.

Für Alvis Hermanis, den Regisseur und zugleich Bühnenbildner der Salzburger Neuinszenierung, war es eine zwingende konzeptionelle Voraussetzung, die Reise des Artus-Ritters Gawain „in einer nahen Zukunft“ anzusiedeln, „in der nach einer ökologischen Katastrophe das menschliche Leben nahezu zum Erliegen gekommen ist. Die Natur, auch die menschliche, kehrt zu ihren Wurzeln zurück, primitive Triebe brechen auf und übernehmen unbewusst die Führung“. König Artus ist in dieser Sichtweise zu einem Krüppel verkommen, der seine letzte verbliebene Energie dazu verwendet, nicht minder heruntergekommene ausgemergelte Frauengestalten zu quälen und seinen einstigen Vorzeige-Ritter Gawain in einen aussichtlos blutig-spektakulären Schaukampf mit Bertilak, dem „Grünen Ritter“ zu schicken. Dieser steht bei Hermanis für die Gegenwelt, für die Gottheit der Natur, die letztlich katastrophisch über die Menschheit hineinbricht, nachdem diese sich selbstgesteuert über die Natur erhoben und sie Zug um Zug zerstört hat.

Einen Bildbezug hierzu fand Hermanis in den Aktionen von Joseph Beuys und dessen mahnendem Statement „Wenn der Menschheit nichts anderes übrig bleibt, als in ihrer Dummheit zu verweilen, wenn sie nicht bereit ist, die Intelligenz der Natur anzuerkennen, wenn sie sich weigert, mit ihr zusammen zu arbeiten, wird die Natur mit Gewalt reagieren, um die Menschen dazu zu zwingen, einen anderen Weg einzuschlagen“. Und so stellte Hermanis Joseph Beuys‘ „The Pack“ nach, das er 1970 in Edinburgh (also einem geographischen Raum mit Artus-Bezügen) installiert hatte, desgleichen dessen New Yorker Aktion „Coyote; I like America and America Likes Me“ von 1974 (allerdings nicht mit einem echten Koyoten, dafür mit einem lebenden Schäferhund, der im zweiten Akt zu Birtwistles aufrüttelnden Bläser- und Schlagzeugballungen angstvoll zu bellen begann). Beides beanspruchte den überwiegenden Platz in der Salzburger Felsenreitschule, so dass kein Raum mehr blieb für die Visualisierung einer weiteren Anspielung Birtwistles und seines Librettisten David Harsent auf die Literatur des Mittelalters, nämlich die Deutung der Minne mittels der Jagdallegorie.  

Birtwistles Musik ist von überwältigender Dichte und besticht durch ihre bezwingende, auf ein Geflecht von Erinnerungsmotiven gestützte sinnfällige Dramaturgie. Sein Ausgangspunkt ist die große musikdramatische Form in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, ohne deswegen ein Wagner-Epigone zu sein. Im Gegenteil: Er begreift dieses künstlerische Erbe als Herausforderung für neu zu Schaffendes, flüchtet sich nicht wie so manch jüngerer Komponist in scheinbar einfacher zu handhabende musiktheatralische Kleinformate. Entsprechend ist der geforderte Apparat riesig, geht noch weit über die Besetzung von Strauss‘ „Salome“ oder Schönbergs „Gurreliedern“ hinaus, wobei in den verschiedenen Orchestergruppen komplexe und komplizierte Strukturen vom Dirigenten zu koordinieren sind, was Ingo Metzmacher am Pult des höchst präsenten und konzentrierten ORF Radio-Symphonieorchester Wien faszinierend gelungen ist. Nicht minder eindrucksvoll agierte der Salzburger Bachchor in der Einstudierung von Alois Glassner. Auch die Solisten erfüllten durchweg die hohen Ansprüche eines internationalen Festivals; stellvertretend genannt seien Laura Aikin als hoch artifizielle Morgan Le Fay und der grandios-bassgewaltige John Tomlinson, der schon bei der Uraufführung des „Gawain“ an der Londoner Covent Garden Opera dem „Grünen Ritter“ alias Bertilak profunde Statur verliehen hatte.

DER KLASSIKKRITIKER

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