Monatsarchiv: April 2024

VON ZEITLOSER SCHÖNHEIT – Das Stuttgarter Ballett huldigt John Cranko mit der hinreißenden Wiederaufnahme von Tschaikowskys „Schwanensee“

Wahre Klassiker sind unsterblich. Was für die Meisterwerke unbestritten gilt, dürfen deren Interpreten indessen nicht so selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Gleichwohl gibt es künstlerische Umsetzungen von meisterlicher Hand, welche die Aufführungen von solch bedeutenden Zeugnissen der Musik- oder Theatergeschichte zu seltenen Sternstunden werden lassen und die es wert sind, über ihre Entstehungszeit hinaus der Nachwelt überliefert und zugänglich gemacht zu werden. Und dann wirkt selbst nach 60 Jahren ungeachtet der zwischenzeitlich verlaufenen Rezeptionsgeschichte solch eine Werksicht überwältigend und hinreißend in seiner zeitlosen Schönheit.

Selbstverständlich bedarf es hierfür neben der Bereitschaft, sich auf eine jahrzehntealte Konzeption einzulassen, der handwerklichen Kompetenz und kreativen Fertigkeit – man ist versucht, den altgriechischen Begriff der techné zu gebrauchen –, um sie mit Leben und Spannung zu erfüllen, nicht die Asche anzubeten, sondern das Feuer neu zu entflammen, das in der einstigen Interpretation steckt.

Mit der Wiederaufnahme von Tschaikowskys „Schwanensee“ in der selbst zum Klassiker gewordenen Choreographie von John Cranko aus dem Jahr 1963 ist dies dem Stuttgarter Ballett auf geradezu sensationelle Weise gelungen. Alleine die wunderbaren Bühnenbilder und geschmackvollen, bis ins Detail ausgefeilten Kostüme von Jürgen Rose nehmen den Betrachter von Anbeginn ein – ein prachtvolles und in sich stimmiges Interieur für die Spielebenen vor und im königlichen Schloss, wunderbare Natur- und Nachtstimmungen in den Szenen am See. Im Zusammenwirken mit den in makelloser Symmetrie arrangierten Tänzerinnen für die Gruppe der Schwäne entstand ein Bühnenzauber in vollendeter Schönheit, jede Pose voller Poesie.

Schwanensee
Chr: John Cranko
TänzerInnen/Dancers: Elisa Badenes, Henrik Erikson, Mackenzie Brown, Daiana Ruiz, Ensemble

© Stuttgarter Ballett

Überhaupt agiert in dieser Wiederaufnahme jede/r Einzelne in dieser Compagnie mit jener Verbindung aus Disziplin und Anmut, welche einmal wieder den internationalen Rang des Stuttgarter Balletts unterstreicht. In der vom Ballettintendanten Tamas Detrich persönlich verantworteten Wiederaufnahme wird jede scheinbar noch so kleine Nebenrolle wichtig genommen, beispielsweise der Freund und die Begleiter des Prinzen mit ihrer makellos präzisen Tanzburleske im ersten Akt. Hierbei wie auch im weiteren Verlauf zeigt sich, wie minutiös Cranko seinerzeit und Detrich jetzt die Bewegungsabläufe aus jeder Phrase von Tschaikowskys Musik herausentwickelt haben, was sich in der Führung der ausgezeichnet besetzten Protagonisten mit einem grandiosen Henrik Erikson als Prinz Siegfried an der Spitze der Männerriege fortsetzt, wenn beispielsweise eine kleine Fingergestik ganz selbstverständlich mit einem Flötentriller einhergeht. Überdies überzeugt Erikson, wie er souverän zwischen athletischer Dynamik und nuancierter Subtilität zu differenzieren versteht.

Vergleichbar vielgestaltig: das Ausdrucksspektrum von Elisa Badenes. Als Odette gelingt ihr überzeugend das von subkutaner Liebessehnsucht durchwirkte Scheue und Zerbrechliche in graziler Eleganz, als Odile die luzide Sinnlichkeit und das latent Laszive. Und mit geradezu atemberaubendem Tempo bei zugleich schritttechnischer Präzision krönt sie den Grand pas de deux mit den berühmten Fouettées. Das Publikum raste vor Begeisterung.

Schwanensee
Chr: John Cranko
TänzerInnen/Dancers: Elisa Badenes, Henrik Erikson, Ensemble

© Stuttgarter Ballett

Nach dem Schlussvorhang galten die Ovationen zurecht dem gesamten Ensemble, von dem der klingsoresk-dämonische Böse Zauberer Rotbart (Clemens Fröhlich) besonders gewürdigt seien, welcher im pas de trois mit Prinz Siegfried und Odile als höhnischer Totentanzmeister beeindruckte, desgleichen die vier Prinzessinnen im Thronsaal-Akt, welche ihre Nationaltänze dankenswerterweise von jedwedem Folklorekitsch befreit hatten. Am Dirigentenpult des bestens aufgelegten Staatsorchesters Stuttgart mit den beiden hervorragenden Solisten Evgeny Schuk (Violine) und Zoltan Paulich (Cello) bewies Wofgang Heinz großen symphonischen Atem für Tschaikowskys facettenreiche Partitur und spürte den silbrig glänzenden Seestimmungen gleichermaßen treffsicher nach wie Prinz Siegfrieds sehnsuchtsvollem Liebesmotiv oder Rotbarts musikalisch zugespitzter Destruktivität. Gern würde man ihn einmal mit den vier zu Unrecht im Repertoireabseits stehenden Orchestersuiten von Tschaikowsky hören, deren erste drei Vieles aus der „Schwanensee“-Musik reflektieren. DER KLASSIKKRITIKER

Wiederaufnahme und besuchte Vorstellung am 6. April 2024; Folgeaufführungen am

10., 13., 28.4., 10., 12., 14., 17., 18., 20., 27., 29., 31.5., 3.6. sowie 19. und 20.7.24. Weitere Informationen:

https://www.stuttgarter-ballett.de/spielplan/a-z/schwanensee-2023-2024

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