Monatsarchiv: Juli 2023

BESIEGELUNG DES WELT-SCHICKSALS BEIM KAFFEEKRÄNZCHEN – Brigitte Fassbaenders Inszenierung von Wagners „Götterdämmerung“ bei den Tiroler Festspielen Erl

Drei elegante ältere Damen treffen sich beim Kaffeekränzchen zu Plausch und Handarbeit. Doch was sie einander berichten und miteinander verhandeln, hat es in sich: Machtmissbrauch, Umweltzerstörung, Rache oder Raub. Und sie sind an diesen Geschehnissen auch noch mitbeteiligt, sind sie doch die drei Nornen, welche die Schicksalsfäden der ganzen Welt in der Hand halten: Große Schicksale werden eben oft genug in banaler Umgebung besiegelt – dieser Gedanke spielt sich in Brigitte Fassbaenders spannend gestalteter Prolog-Szene von Wagners „Götterdämmerung“ in ihrer Neuinszenierung für die Tiroler Festspiele Erl in den Vordergrund. Wobei die spannende Gestaltung keineswegs nur auf die Regie zurückzuführen ist, die sich einmal wieder durch hohe Detailgenauigkeit ausgezeichnet hat – nie ist bei Fassbaender eine Geste vergebens, doch alles, was man aus der Partitur heraushört oder -liest, ist präsent – sondern auch auf die drei ausgezeichneten Solistinnen, die großstimmig und mit vorbildlicher Deutlichkeit deklamieren.

Da kündet Anna-Katharina Tonauer ergreifend von Wotans Befehl, die Weltesche fällen zu lassen mit der Konsequenz, dass auf Erden die Wasserquellen versiegen, setzt Monika Buczkowska eindringlich das Fanal des bevorstehenden Weltenbrands samt Untergang der Götter und bringt Marvic Monreal perfekt deklamierend Alberichs Raub des Rheingolds in Erinnerung.

Zwei weitere Handlungsabschnitte bleiben von dieser insgesamt guten und sinnhaften Neuinszenierung in besonderer Erinnerung: die Waltrauten-Szene und die Auseinandersetzung Siegfrieds mit den drei Rheintöchtern. Der zunehmend zum Disput werdende Dialog zwischen Waltraute und Brünnhilde bringt in vielen Götterdämmerung-Produktionen ein retardierendes Moment ins Spiel. Aber nicht bei Brigitte Fassbaender und Zanda Švěde als geradezu phänomenaler Waltraute. Es schien, als ob Fassbaender, die ihrerseits beispielsweise im Bayreuther „Ring“ von 1983 die Figur höchst eindrucksvoll insbesondere musikalisch verkörperte, da der seinerzeitige Regisseur Peter Hall die handelnden Personen nur ansatzweise entwickelt hatte, ihre gesammelten Erfahrungen in dieser Szene wie in einem Brennglas bündelte und durch jene gestischen und mimischen Akzente komplettierte, die sie als Sängerin bei anderen Regisseuren vermissen musste.

Christiane Libor als Brünnhilde stand hier wie überhaupt über den gesamten Aufführungsabend hindurch in nichts nach. Unter den ohnehin rar gesäten Hochdramatischen bewegt sie sich in einer Extraklasse. Schwierig zu entscheiden, was an ihr mehr zu bewundern ist: ihr großes Differenzierungsspektrum oder ihre spürbare Leidenschaft, ihr 100-prozentiges Stehvermögen oder ihre perfekte Übereinstimmung zwischen vokaler und darstellerischer Gestaltungskunst, die vorbildliche Diktion oder die vollendete Phrasierungskultur. Die Solistinnen-Riege wurde komplettiert durch die ausgezeichnete Irina Simmes, die von Brigitte Fassbaender dankenswerterweise nicht als hübsches Dummchen aufgefasst worden ist, sondern als eine Jugendliche, die nicht länger als Mädchen, sondern als Frau wahrgenommen werden möchte, wobei Simmes an ihren großartigen Erfolg mit der „Walküren“-Sieglinde anknüpfte und Leucht- wie Strahlkraft erkennen ließ.

In Siegfrieds unfreiwilliger Begegnung mit den drei Rheintöchtern gelang es der Regisseurin überdies, eine starke Spannungsintensität zu vermitteln; hierbei überzeugte die Ensembleleistung der miteinander stets homogenen, aber auch in den solistischen Abschnitten profilierten Anna Nekhames, Karolina Makula und Katharina Magiera. Nicht ganz einleuchten wollte Fassbaenders Gestaltung des zweiten und dritten Finales. Der noch einmal, von Wagner bewusst als Störfaktor konzipierte, aufmarschierende Hochzeitszug nach dem Rachebund-Terzett entfiel, wie auch die finale Vernichtung der Götter und das Überleben der einfachen Menschen keine unmittelbare szenische Umsetzung fand. Dafür kommt Hagen nicht durch die Rheintöchter, sondern durch Alberich (den Fassbaender zutreffend als Beobachter der Geschehnisse ab der zweiten Prolog-Szene bis hin zu den Schlusstakten präsent hält) ums Leben.

Bei den Männerstimmen war der Gesamteindruck der Aufführung „on top“, wozu auch Olga Yanums fulminant einstudierter Mannen-Chor gerechnet werden darf. Vincent Wolfsteiner sang den Siegfried glanzvoll und mit feurig-heldischer Attacke, Craig Colclough gab einen recht intensiven Alberich, und der schon im „Rheingold“ als Donner überzeugende Manuel Walser verlieh der oft blässlichen Figur des König Gunther Markants und Kontur. Als Hagen steuerte Robert Pomakov seine Kraftfülle kultiviert und machte mit seiner starken Bühnenpräsenz deutlich, wer der eigentliche Drahtzieher in diesem Endspiel um Machtgier, Ring und Liebesfluch ist.

Am Dirigentenpult des im Verhältnis zum vorangegangenen „Siegfried“ in manchen Bläserpassagen nicht mehr ganz so ausgewogenen Tiroler Festspielorchesters baute Erik Nielsen Spannungsbögen voller Intensität, ließ Klangwallungen aufkommen, sich stauen und gleichsam entladen, erschloss eine gestalterische Palette von warmer Innigkeit bis hin zu elementarer orchestraler Wucht. Darüber hinaus gelang ihm eine plastische Darstellung der kontrapunktischen Verflechtungen der Partitur. Mitunter hätte man sich in denjenigen Szenen, die von einem stärkeren Sprachduktus oder Parlandoton getragen sind (beispielsweise in den Duetten Siegfried-Brünnhilde oder Hagen-Alberich wie überhaupt in der Gibichungen-Szene bis hin zu Hagens abschließendem Wacht-Gesang) flüssigere Zeitmaße gewünscht. Alles in allem jedoch ist dieser Erler „Ring“ eine formidable Neuproduktion von Wagners Tetralogie, die schon heute Vorfreude auf deren Gesamtaufführung bei den Festspielen 2024 weckt.

DER KLASSIKKRITIKER

Premiere am 16., besuchte Vorstellung am 29. Juli. Aufführungstermine des gesamten „Ring des Nibelungen“ 2024: 5./6./8./10.7.  und 23./24./26./28.7.  

Weitere Informationen: https://www.tiroler-festspiele.at/spielplan

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Bekenntnis zur Naturkulisse – Mit dem „Siegfried“ setzt Brigitte Fassbaender ihre kluge Sicht auf Wagners „Ring des Nibelungen“ bei den Tiroler Festspielen Erl fort

Als Gegenpol zum Machtstreben einer korrupten und ausbeuterischen Gesellschaft ist die Natur in Wagners „Ring des Nibelungen“ dramaturgisch von zentraler Bedeutung. Schon vor Beginn des „Rheingolds“ beging Wotan seinen Naturfrevel, von dem ab das im finalen Untergang des Götterstaats dominierende Unheil seinen Lauf nimmt. Und so ist es nur sinnfällig und folgerichtig, dass sich Brigitte Fassbaender in ihrer Neuinszenierung der Tetralogie für die Tiroler Festspiele Erl zu der von Wagner in seinen Regieanweisungen immer wieder vorgegebenen Naturkulisse bekennt, die insbesondere im „Siegfried“ eine wichtige Rolle spielt.

Bei Fassbaender darf ein Wald auch ein solcher sein, freilich kitschbefreit und apart stilisiert, fantasievoll in Farbe und changierendes Licht getaucht (Bühnenbild: Kaspar Glarner, Licht: Jan Hartmann), korrespondierend zu den mit „Waldweben“ und „Wachsendem Waldweben“ vom Komponisten betitelten früh-impressionistischen Klangflächen, die Erik Nielsen aus seinem prächtig disponierten Festspielorchester heraus zaubert. Und zauberhaft war dann auch die Idee, aus Wagners Waldvögelein gleich ein Vogelpaar zu machen, das den jungen Siegfried animiert, sich die Lippen mit dem Blut des erschlagenen Fafner zu netzen und infolgedessen die Sprache der Vögel zu verstehen, dadurch die unterbewussten Gedanken des hintertückischen Mime zu erkennen. Selten ist dies in einer Inszenierung so deutlich herausgearbeitet worden wie jetzt von Brigitte Fassbaender in Erl.

Genauso selten ist auch eine Wagner-Aufführung zu erleben, bei der die letzte Bayreuther Spielanweisung, die der Komponist im Vorfeld der ersten Ring-Aufführung von 1876 gegeben hatte – „Deutlichkeit!“ – so kongenial umgesetzt worden ist, was einmal wieder den Eindruck hinterließ, dass Brigitte Fassbaender nicht nur szenisch, sondern auch auf der Grundlage ihrer Erfahrungen als herausragende Sängerin hinsichtlich der musikalischen Diktion mit ihrem Ensemble gearbeitet hatte. Alle Solist/innen verband eine exzellente Textdeutlichkeit bis in die höchsten Lagen des Waldvogel-Parts hinauf, den Anna Nekhames mit glockenklarer Anmut gestaltet.

Es würde Seiten füllen, all jene Details aufzulisten, welche Brigitte Fassbaender ihrer Inszenierung zugrunde gelegt hat, beginnend mit dem klug visualisieren Vorspiel zum ersten Aufzug, das von Mimes sogenanntem „Grübel-Motiv“ getragen ist (dessen sinistere Farben Nielsen nochmals intensivierte) und ins Hämmermotiv übergeht. Bei Fassbaender denkt Mime zu diesen Takten an seine Schwierigkeiten mit Siegfried schon in dessen ganz jungen Jahren zurück: Ein Kinderstatist zerhaut mit ungebändigter Kraft und einem Spielzeugschwert Gegenstände und schmeißt das von Mime zubereitete Essen durch die Gegend, so wie es sich dann später zu den Worten „Braten schuf ich mich selbst/deinen Sudel sauf allein“ nochmals ereignen wird, korrespondierend zu Wagners Regieanweisung, dass Siegfried seinem Ziehvater einen Suppentopf aus der Hand wirft. Will sagen: So, wie Wagner musikalisch mit seiner Motivtechnik das Prinzip von Ahnung und Erinnerung anwandte, setzte Brigitte Fassbaender über die drei Aufzüge hin ein szenisches Beziehungsgeflecht, bei dem jede Geste und jede Mimik auf den Punkt passte.

So traf Siegfried mit seinem Schwert Nothung den Fafner (der als schwer bewaffnetes Kriegerdenkmal seiner selbst auf seinem Tresor thronte) tatsächlich „ins Herz“, und in der Szene zwischen Erda und dem als Wanderer durch die Welt streifenden Wotan zeigte die Regisseurin nicht nur, wie nahe die Beiden einander einst waren und welche erotisierende Spannung nach wie vor zwischen ihnen besteht, sondern machte auch deutlich, dass die Wissende dem sorgenvoll Fragenden dann die begehrte Kunde verweigert, als sich Wotan damit brüstet, deren gemeinsame Tochter Brünnhilde zur Strafe in einen wehrlosen Schlaf gebannt zu haben. Detailgenau auch der Einsatz von Requisiten – Brünnhildes Lieblingspferd Grane weidet nicht naturalistisch im Bühnenhintergrund (was kitschig wäre), raucht auch keine Zigaretten wie bei David Alden in München (was Krampf war) oder wird gleich ganz weggelassen (was Verlegenheit ist), sondern sie trägt dessen Miniatur als Kette um den Hals. Und wenn Siegfried den Tarnhelm des erschlagenen Fafners an sich nimmt, der wie eine AR-Brille aussieht, ist dies ein augenzwinkernder Gruß an den Regiekollegen vom aktuellen Bayreuther „Parsifal“.

Musikalisch war ein großer Wagner-Abend zu erleben; kleinere Abstriche waren bei Craig Colclough hinzunehmen, der für einen „Schwarzalben“ auch vom Timbre her nicht überzeugend war. Wesentlich mehr Schwärze brachte dagegen der Fafner von Anthony Robin Schneider auf die Bühne. Peter Marsh sang den Mime metallisch timbriert und mit einer Deklamationsschärfe, die an den legendären Heinz Zednik aus dem Chéreau-Ring erinnerte, und Simon Balley ließ als Wotan-Wanderer hinreißende Belcanto-Bögen verströmen (sein „Alles ist nach seiner Art“ im zweiten Aufzug ging zu Herzen), setzte daneben Akzente von dramatischer Wucht. Mit kolossalem Stehvermögen bewältigte Vincent Wolfsteiner die Titelpartie, mühelos zwischen sämtlichen, nach oben wie unten voll ausgebauten Registern wechselnd. Zanda Šwĕde war eine hervorragende Erda, Christiane Libor eine großartige Brünnhilde.

Der Regisseurin vergleichbar, arbeitete Erik Nielsen am Dirigentenpult über die bereits genannten zahlreiche weitere Details heraus, beispielsweise in der Abschattierung von Hörnern und Klarinetten beim sogenannten „Staren-Lied“ oder in der Begleitung von Brünnhildes „Heil dir Sonne“, als Harfen und Violinen gleichsam „mitsangen“, verstand sich darüber hinaus auf die großen Linien. Seine Tempi griffen das natürliche Parlando des Sprachduktus auf und kamen daher dem Konversationsstück-Charakter von Wagners „Siegfried“ sehr nahe. Auch die Proportionen stimmten durchweg; das „Aus dem Wald fort, durch die Welt zieh‘n“ erklang mit einer Prägnanz und zügigen Straffheit, wie sie DER  KLASSIKKRITIKER seit Boulez 1980 nicht mehr gehört hatte. Alles blieb im organischen Fluss, wie auch jene Passagen, in denen das Orchester das Handlungsgeschehen nachsinnend-emotional kommentiert, wunderbar ausmusiziert worden sind. Freuen wir uns also auf die „Götterdämmerung“! DER KLASSIKKRITIKER

Premiere am 8., besuchte Vorstellung am 27. Juli 2023. „Götterdämmerung“ am 29. Juli 2023. Weitere Informationen: https://www.tiroler-festspiele.at/spielplan

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100 Minuten Liebeswahn – Die Bayerische Staatsoper koppelt Purcells „Dido and Aeneas“ mit Schönbergs „Erwartung“

Schon in den einleitenden Takten zu Purcells der griechischen Mythologie entnommenen Oper „Dido und Äneas“ traf Andrew Manze am Pult des absolut stilsicher musizierenden Bayerischen Staatsorchesters durch seine kluge Tempowahl den elegischen Grundton der Partitur, wie er überhaupt die vielfältigen Affekte sehr gut herausarbeitete. Auch in Arnold Schönbergs Einakter „Erwartung“ fächerte der Dirigent die komplex geschichtete Partitur souverän auf, spürte Schönbergs Klangfarbenmelodie sensibel nach und entwickelte gemeinsam mit dem jetzt früh-expressionistisch groß besetzten Orchester das „Mahlerisch-Tristanische“ gleichermaßen klangsinnlich wie die eruptiven Ausbrüche und gelegentlichen Strauss‘schen Schwelgereien. Es verdient höchste Bewunderung, wie das Bayerische Staatsorchester in den rund 100 Minuten dieses Opernabends von der Barockmusik zur Zweiten Wiener Schule zu wechseln imstande war.

Gesungen wurde auf durchweg hohem Festspiel-Niveau. Ausrine Stundyte, die schon im vergangenen Festspielsommer in Pendereckis „Teufel von Loudon“ die Jeanne als ekstatisch bis verzweifelte Gefangene ihrer selbst facettenreich modellierte, gewann auch der Dido bezwingend abschattierte Nuancen des Schmerzes ab, zart, mitunter zerbrechlich bis hin zum ergreifenden, zu Herzen gehenden Klagegesang im Finale des dritten Akts. Auch Schönbergs Monodram sang sie schön, ausdrucksstark und mit ausgewogener Linienführung. Hinsichtlich der Diktion war sie allerdings im Englischen wesentlich sicherer unterwegs als im zugegeben sprachlich anspruchsvollen Schönberg-Libretto, wo es der Übertitelung wahrlich bedurfte.

Pointiert und prägnant übernahm Rinat Shaham die Partie der Venus, der zweiten Frau und der zweiten Hexe. Elmira Karakhanova, seit dieser Spielzeit Mitglied im Opernstudio der Bayerischen Staatsoper, sang die erste Hexe angemessen metallisch timbriert und dominant. Als Belinda ließ Victoria Randem optimale Rollenidentiät bei voller vokaler Substanz erkennen. Eindringlich fesselte der Countertenor Key’mon W. Murrah als Sorceress und Geistererscheinung des Merkurs, wie auch der baritonal-kernige Günter Papendell neben der Hauptrolle des Aeneas (die er glaubhaft und kompetent herüberbrachte) noch den Ersten Matrosen zu singen hatte.

Denn mit der von Vergil überlieferten mythologischen Handlung und den sie tragenden Figuren hatte der Regisseur der Münchner Inszenierung, Krzysztof Warlikowski, wenig im Sinn. Dido ist für ihn keine Königin und bewohnt auch keinen Palast, sondern einfach eine Frau namens Dido, die sich in ein Haus geflüchtet hat, das ihr nicht gehört. Aeneas segelt auch nicht mit Gefolge an ihr herrschaftliches Gestade, sondern er fährt mit einem schicken Auto vor, das allerdings offensichtlich eine undichte Stelle hat, muss er sich doch noch vor Eintreten in Didos Wohnküche unter sein Auto kriechen und dort etwas reparieren. Da braucht es natürlich keinen Matrosen mehr, zumal es in dieser Inszenierung auch keine Abreise des Titelhelden über die unendlichen Meeresweiten gibt, um das zerstörte Troja in Latium neu aufzubauen. Stattdessen wird der arme Kerl während eines Breakdance-Interludes  zwischen Purcell und Schönberg, dessen Musik von Pawel Mykietyn ziemlich nervte, von der sich gerade eben noch suizidiert habenden und plötzlich wiedererstandenen Dido nebst ihrer treuen Belinda erschossen. Mit derlei Banalisierungen raubt man den großen Figuren der antiken griechischen Tragödie und ihrer einzigartigen Vertonung durch Purcell sämtliche Fallhöhe!

Dass Warlikowski ein handwerklich hervorragender Regisseur ist, der auf dichte und vielgestaltige Weise die Personen zu führen vermag (was insbesondere auf Schönbergs „Erwartung“ zutraf), steht dabei außer Frage, wie auch das raffinierte Bühnenbild und die fantasievollen Kostüme von Małgorzata Szczęśniak, die Lichtgestaltung von Felice Ross und die Choreografie von Claude Bardouil starke optische Reize vermittelten. Die Idee, das Schönberg-Stück mit jenem von Purcell zu verbinden, erwies sich dabei als sinnfällig und spannend, geht es doch hier wie dort um das Verlassenwerden einer hingebungsvoll bis zur Selbstaufgabe liebenden Frau. Bleibt abschließend der Zusatzchor der Bayerischen Staatsoper in der Einstudierung von Sergej Bolkhovets zu würdigen, der homogen in allen Stimmgruppen zu hören war. DER KLASSIKKRITIKER

Premiere am 29. Januar 2023, besuchte Vorstellung im Rahmen der Münchner Opernfestspiele am 22. Juli 2023; weitere Informationen: https://www.staatsoper.de/stuecke/dido-aeneas-erwartung/2023-07-22-1900-13448

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WALDGEISTER UND MARIENVISIONEN – Bei den Opernfestspielen Heidenheim spielt Verdis selten zu erlebende Schiller-Oper „Giovanna d’Arco“ in der Psychiatrie

Shakespeare und Schiller sind jene Dichter, die für Verdis Bühnenwerke den Löwenanteil der literarischen Vorlagen ausmachen. Haben sich dabei die Shakespeare-Opern „Otello“ und „Falstaff“, mit gewissem Abstand auch der „MacBeth“ im Repertoire gehalten, sind die Schiller-Vertonungen hierzulande eher selten anzutreffen, vom „Don Carlos“ einmal abgesehen, doch selbst er wird kaum in seiner französischen Originalgestalt gegeben.

Die Auswahl der Schiller-Dramen durch Verdi ist dabei programmatisch und planvoll. Zwischen den „Räubern“, „Kabale und Liebe“, „Don Carlos“, dem „Wallenstein“ oder der „Jungfrau von Orléans“ gibt es einen inneren Zusammenhang: Schillers scharf akzentuierte Gesellschaftskritik, die sich gegen externe Unterdrückung gleichermaßen richtet wie gegen interne Repressionen. Alle diese Texte prangern die öffentlich ausgeübte feudal-aristokratische Gewalt genauso an wie den patriarchalisch-innerfamiliär ausgeübten Druck. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch Verdis Bühnenschaffen und fand in seinen Schiller-Dramen die kongeniale Ausprägung – allen Vorurteilen aus der Sicht national-romantischer Schulen und deren nationalistischer Apologeten in neuerer Zeit zum Trotz.

Es ist das Verdienst der Opernfestspiele Heidenheim, sich systematisch auch der unbekannteren Verdi-Opern zu widmen, in diesem Jahr seiner ersten Schiller-Oper von 1845, der „Giovanna d’Arco“, nach der 1801 vom Dichter in Verse gesetzten „Jungfrau von Orléans“, für die sich Jahre später auch noch Tschaikowsky interessieren sollte. Mit dieser Oper begann zugleich das Problem in der Beurteilung des Verdi-Schiller-Verhältnisses, denn nicht nur die Vertreter einer deutschen nationalen Kunstschule wurden von da an nicht müde, Verdi einen unangemessenen Umgang mit Schiller vorzuwerfen. Auch der italienische Librettist Temistocle Solera, der für Verdi das Textbuch einrichtete, wollte jenes als eigenständiges Werk verstanden wissen und behauptete allen Ernstes, sein Stück hätte nichts mit Schiller zu tun. Dabei folgte er sehr eng dem Schauspiel, sieht man einmal davon ab, dass König Karl von Frankreich selbst als Johannas Geliebter und nicht, wie bei Schiller, der Feldherr Lionel in dieser Funktion auftritt.

Einmal wieder macht Heidenheims künstlerischer Direktor Marcus Bosch deutlich, dass er den jungen Verdi ernst nimmt. Schon in den einleitenden Takten der Sinfonia zeichnet er ein Hörbild des Bedrohlichen, schichtet differenziert die einzelnen Klangbewegungen auf, arbeitet mit seinem hoch konzentriert präsenten  Projektorchester „Cappella Aquileia“ akribisch die Nebenstimmen heraus. Die Proportionen der Tempi sind stimmig gesetzt, Bühne und Graben exzellent miteinander ausbalanciert, und im Zugriff auf das gesamte Werk zeigt Bosch Verdis schon mit Anfang 30 hochentwickelte musikalische Fertigkeit und Charakterisierungskunst.

Im Mittelpunkt steht dabei die Titelfigur. Die unter anderem bei Elisabeth Schwarzkopf und Mirella Freni fortgebildete Sophie Gordeladze verbindet lyrische Anmut mit jugendlich-dramatischer Tragweite und überzeugt überdies durch tadellose Diktion und intensives Spiel. Demgegenüber stand Héctor Sandoval als Carlo hintan. Zwar hat auch sein angenehm schlanker Tenor raumfüllende Kraft; allerdings fällt auf, dass bei Übergängen vom oberen ins mittlere Register sein Piano nicht immer gedeckt ist.

Ausgezeichnet der Bariton: Luca Grassi beginnt als Giovannas Vater Giacomo volltönend und sonor bei bester Textverständlichkeit, durchmisst souverän große Stimmräume und verfügt über eine reiche Farbpalette. Bei den kleineren Rollen ließ Rory Dunne mit seiner Tiefenschärfe aufhorchen, und der Tschechische Philharmonische Chor Brünn in der Einstudierung von Michael Dvořák agiert kultiviert einschließlich der Soli.

Verdis Oper gleichermaßen wie Schillers Vorlage sind typische Werke ihrer Entstehungszeit. Die finale Marien-Apotheose Johannas wirkt heute genauso unwirklich, wie es die Waldgeister und Dämonen des Prologs sind, welche als Visionen die Titelheldin immer wieder heimsuchen, wodurch die Personen in ihrem Umfeld, beginnend mit ihrem Vater, zunehmend auf Distanz gehen. Für Regisseur Ulrich Proschka war dies der Ausgangspunkt, die Handlung in einer Psychiatrie anzusiedeln, in der Giovanna, offensichtlich eingewiesen von ihrem Vater, behandelt wird. Die Liebe zu Carlo, ihre Kriegstaten und ihre schlussendliche religiöse Verzückung werden als Wahnvorstellungen interpretiert. Die Stärke dieser Inszenierung zeigt sich dabei in den inneren seelischen Regungen Johannas im Konflikt mit ihren eigenen Ambivalenzen, den Erwartungen Dritter und den äußeren Bezugspersonen wie ihrem behandelnden Arzt, den sie als Talbot wähnt. In der vergleichsweise statuarischen Chorführung indessen blieb noch Luft nach oben. Bühnenbild und Kostüme von Lena Scheerer sowie das Lichtdesign von Hartmut Litzinger sind dramaturgisch sinnfällig konzipiert. Einmal wieder ein wertvoller Beitrag für die Rezeption des jungen Verdi auf deutschen Bühnen.

DER KLASSIKKRITIKER

Premiere und besuchte Vorstellung am 20. Juli 2023, Folgeaufführung am  22.7.,  weitere Informationen: https://www.opernfestspiele.de/tickets-spielplan/giovanna-d-arco-2.html

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