13. März 2024 · 14:05
Offen endende oder Fragment gebliebene Romane scheinen eine umso größere Inspirationsquelle für Komponisten zu sein, wenn sie, als ihre eigenen Librettisten, aus dem Korsett der Konvention ausbrechen und keine Geschichten durch Musik illustrieren wollen, sondern Atmosphärisches verdichten und dramaturgisches Neuland erreichen möchten, was zur Entstehungs- und Uraufführungszeit solcher Werke oft auf Unverständnis stößt und im Rückblick darauf geradezu visionär erscheint. Gottfried von Straßburgs unvollendetes Tristan-Epos führte durch Richard Wagner zu einem, zunächst als unspielbar abgelehnten, bahnbrechenden und noch für Komponisten-Generationen nach ihm richtungsweisenden Bühnenwerk, dabei zugleich einen der Gipfelpunkte der damaligen Avantgarde markierend, und rund 100 Jahre später ließ der polnische Komponist jüdischer Herkunft Roman Haubenstock-Ramati mit seiner Opernversion auf der Grundlage von Franz Kafkas unvollendetem Roman „Der Verschollene“ das bisherige Musiktheater hinter sich, um in – in vollem Wortsinne – unerhörte Klangwelten vorzustoßen.
Berlin 1966 – Der Uraufführungs-Skandal
Die Uraufführung 1966 an der Deutschen Oper Berlin endete im wütenden Publikumsprotest, und nach einer weiteren Aufführung wurde das Werk vom Spielplan abgesetzt: Ähnlich wie 100 Jahre zuvor bei Wagners „Tristan“ waren auch bei Haubenstock-Ramatis „Amerika“ das Publikum genauso wenig aufnahme- wie das produzierende Theater aufführungsbereit für ein solches, alles Bisherige hinter sich lassende Unterfangen mit seinen – in vollem Wortsinne – unerhörten Klangwelten. Nicht ein, sondern gleich drei Orchester werden verlangt, dazu Sprechchöre, Pantomimen, Schauspieler und 7 Gesangssolisten/innen, die 15 Rollen vorzustellen haben. Mehrere im Raum verteilte Lautsprecher ziehen das Publikum überdies in einen unerbittlichen Klangsog, der seinerseits über viele Teile hin nicht nur herkömmlich, sondern auch grafisch notiert ist und in der Anordnung seiner einzelnen Teile durch ein vom Komponisten sogenanntes „Mobile“-Verfahren den Ausführenden zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.
Dies war sogar für ein großes Haus wie der Deutschen Oper in den sechziger Jahren absolutes Neuland, angefangen bei den tontechnischen Möglichkeiten für die Zuspielungen der Lautsprecher-Raumklänge, die damals auf bescheidene 4 Kanäle beschränkt blieben. Was dem Komponisten vorschwebte, lässt sich erst heute mittels der modernen Surround-Verfahren realisieren. Die Solopartien mit ihrer auf Schönbergs Pierrot lunaire zurückführbaren Sprechmelodie und dem rhythmisierten Sprechgesang, wie ihn beispielsweise auch Alban Berg in Wozzeck und Lulu einsetzte, waren ebenfalls noch kein Allgemeingut in der Theaterpraxis, genauso wenig die Clipping-Dramaturgie, welche Kafkas Roman auf 25 kurze, teilweise nur 90 Sekunden dauernde Szenen reduzierte.
In der Anordnung der Szenen folgt Haubenstock-Ramati Kafkas Textvorlage ziemlich genau. Er beginnt mit der Überfahrt des von seinen Eltern nach Amerika verschickten 17-jährigen Karl Rossmann, der sich mit einem Schiffsheizer anfreundet, vorübergehende Aufnahme bei seinem Onkel Jakob findet, von diesem jedoch des Hauses verwiesen wird, weil er gegen Jakobs Willen dessen zwielichtigen Geschäftspartner Pollunder besucht und sich dabei in ambivalenten Gefühlswirrungen gegenüber Pollunders Tochter Clara verfängt. Er schlägt sich als Liftboy in einem Hotel durch, wird durch eine Intrige des Oberportiers hinausgeworfen, lässt sich mit zwei Kleinkriminellen und einer zur Dirne verkommenen gescheiterten Sängerin ein, um schließlich in einem absurden Naturtheater in Oklahoma zu landen, bei dem Teufel und Engel gleichermaßen die Trompeten blasen.
Autobiographische Bezüge
Roman Haubenstock-Ramatis Nähe zu diesem Kafka Stoff ist nicht zufällig. Auch er durchlitt Lebensphasen des Geworfen- und Ausgestoßenseins. „Ja, da gibt es sicher Ähnlichkeiten“, bekannte der Komponist ein Jahr vor seinem Tod in einem Interview mit Reinhard Kager. „Alles, was ich schreibe, beinhaltet gewisse, meist versteckte Motive, die mich ganz persönlich betreffen“. 1919 in Krakau geboren, musste er aufgrund seiner jüdischen Herkunft vor den Nazis fliehen, wurde jedoch schon in Lemberg wegen angeblicher konterrevolutionärer Umtriebe und Spionage von den russischen Besatzern verhaftet. Wieder auf freien Fuß gesetzt, schloss er sich einer polnischen Exilarmee an, bis er 1945 wieder nach Krakau zurückging, um 1947 erneut – jetzt vor den Repressalien des sozialistischen Regimes – zu fliehen und in Israel Zuflucht zu finden. Dort war es ihm zunächst nicht vergönnt, künstlerisch Fuß zu fassen; über Paris und Zürich gelangte er nach Wien, wo er Hauskomponist, später Cheflektor des Musikverlags Universal Edition wurde. 1973 übernahm er eine Professur an der Musikhochschule in Wien, wo er 1994 starb.
Wie Kafka, erzählt auch Haubenstock-Ramati seine Oper ganz aus der sich immer mehr verengenden Perspektive des Antihelden Karl. Durch die Sogkraft der Musik gelangt der Betrachter immer mehr in die Verstrickungen des jungen Manns hinein, für die Karl letztendlich kein Vorsatz oder gar Verschulden trifft, er jedoch auch keine eigenen Handlungsmöglichkeiten zum Ausbrechen hat. Man verzweifelt schließlich mit ihm an dieser ausweglosen Verlassenheit.
Regisseur Baumgarten übt subkutan Amerika-Kritik
In seiner faszinierend stimmigen Inszenierung, die auf den Punkt korrelierte mit dem Dirigat von Gabriel Feltz, lässt Sebastian Baumgarten am Opernhaus Zürich dieses komplexe Bühnenwerk im Kafka-Gedenkjahr kongenial Gestalt annehmen. Plumpe Aktualisierungsversuche, die möglicherweise manch anderen Regisseur angesichts der aktuellen politischen Weltlage im Vorfeld des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf gereizt hätten, sind Baumgartens Sache glücklicherweise nicht. Die Amerika-Kritik in seiner Inszenierung ist subkutan, ähnlich wie jene bei Kafka, der dort nie war, wiewohl gründlich über die Vereinigten Staaten recherchiert hatte und skeptische Vermutungen über gesellschaftliche Entwicklungen hegte, die sich nach seinem Tod als genauso wahr werdend entpuppten wie jene über den Totalitarismus im Nazideutschland.
Hierfür entwickelt Baumgarten eine bezwingende Bildsprache und minutiös gesteuerte Bewegungsabläufe, derer es auch bedarf, wenn über 68 im Theaterraum verteilte Lautsprecher neben dem Live-Orchester zwei weitere Orchester, Sprechchöre und teils auch solistische Gesangsabschnitte mittels Tonträger eingespielt werden; Sounddesign (Raphael Paciorek) und Klangregie (Oleg Surgutschow) verdienen hier als veritable Partner des Dirigenten ein dickes Sonderlob. Schon die erste Szene zieht den Betrachter in Bann, wenn die Freiheitsstatue zusammen mit dem Gepäck der in New York anlandenden Schiffspassagiere in den Schlund einer riesigen Registrierkasse geworfen wird, in welcher ameisenhafte Schreiberlinge ganz kafkaesk mit einer in ihrer Stereotypie erschreckenden Emsigkeit ihren bürokratischen Geschäften nachgehen. Bis zur Schlussszene mit ihrer ins Absurde gewendeten Karikatur eines Disneyland-Amerikas, zu dem der Komponist mit der geradezu ätzend eingesetzten falschen Süßlichkeit der Celesta-Klänge das Seinige liefert, machen Baumgarten wie Feltz überdeutlich, dass es aus dieser Welt kein Entrinnen gibt.
Gabriel Feltz‘ hohe dirigentische Kunst
Nicht nur der komplexe Aufführungsapparat ist für den Dirigenten eine besondere Herausforderung, sondern auch die Strukturierung der Opernpartitur. Sowohl die grafisch notierten Teile als auch die Mobile-Passagen bedürfen sinnfälliger Lösungen und Absprachen im Vorfeld. Denn wenn eine Sängerin oder ein Instrumentalist in einem bestimmten Zeitrahmen das Tempo verlangsamen oder beschleunigen, ja sogar einzelne Abschnitte umstellen und anders anordnen können, muss dies mit den anderen Beteiligten koordiniert werden und zu den Einspielungen passen, die während der Aufführung natürlich nicht mehr verändert werden können. So wurde in Zürich ein sekundengenaues Zeitraster entwickelt, um die Freiheiten des Einzelnen in das Gesamtgefüge einzugliedern. Hierfür das Steuerrad fest in der Hand zu behalten und zugleich künstlerische Akzente zu setzen, also nicht nur Zeitabläufe, sondern auch Emotionen zu lenken, ist hohe dirigentische Kunst.
Sehr deutlich wurde dies in den „Vermutungen über ein dunkles Haus“, ein Orchester-Zwischenspiel, das Haubenstock-Ramati auch als eigenes symphonisches Werk veröffentlicht hat. Feltz entfaltet dafür eine klanggewordene Atmosphäre des Grauens, die Erschauern lässt.
Sängerische Exzellenz
Bei den Gesangssolisten fesselt Tenor Paul Curievici in der Titelrolle. Er wie auch alle seine Kollegen/innen vermögen es, souverän zwischen auskomponierten Gesangslinien, rhythmischem Sprechen und Sprachmelodien hin und her zu wechseln. Robert Pomakov verleiht den vier Rollen des Heizers, Pollunders, Robinsons und ersten Landstreichers seinen kraftvoll dröhnenden Bass. Messerscharf und robust gibt Ruben Drole den Oberportier, Direktor und Onkel Jakob. Georg Festl unterstreicht teuflisch die vier fiesen Charaktere, die er vorzustellen hat, überzeugt besonders als Delamarche.
Bei den Damen platziert Mojca Erdmann als sadistisch angewandelte Klara glasklare Koloraturen und perfekte Tonsprünge auch zwischen entlegenen Registern. Genauso überzeugt sie in der absolut konträr angelegten Partie der Therese oder wenn sie Duett mit sich selbst und ihrer zusätzlich über Lautsprecher eingespielten Stimme zu singen hat. Stimmlich vergleichbar weiträumig und mit makellosem Differenzierungsvermögen gibt Allison Cook die Brunelda. Darstellerisch legt sie die Figur noch mondäner an, als sie bei Kafka gezeichnet ist. Starke Bühnenpräsenz zeigt Irène Friedli als Oberköchin. Und die von Takao Baba choreographierten Tanzszenen sind brillant.
Die Produktion wird flankiert durch ein exzellentes Programmheft und eine Ausstellung von Haubenstock-Ramatis graphischen Partiturseiten, beides verantwortet von Claus Spahn. Was für ein Meisterwerk der klassischen Moderne! Und was für eine grandiose Aufführungsqualität! Man müsste noch öfters hingehen, um Haubenstock-Ramatis „Amerika“ in all seinen Verästelungen aufnehmen zu können.
Kafka-Ausstellung im Museum Strauhof
Nicht minder lohnt der Ausstellungsbesuch „Kafka – Türen, Tod &Texte“ im Zürcher Museum Strauhof, kuratiert von Rémi Jaccard und Philip Sippel. Tagebucheinträge, Briefe und Textauszüge aus den Erzählungen des Dichters kreisen um die genauso existenzialistischen wie endzeitlichen Abgründe, in die Kafka seine Protagonisten immer wieder von Neuem stürzen lässt, wobei geradezu leitmotivisch der Tür eine besondere Bedeutung zukommt, was sich keineswegs nur auf die Szene mit dem Türhüter im fatalistischen Roman „Vor dem Gesetz“ bezieht. „Charakteristische Themen wie Angst, Macht und Scham stehen oft in Bezug zu Türen: Sei es die Abschottung vor der Außenwelt, sei es die Sorge, was dahinter wartet, oder die Unmöglichkeit, sie zu durchschreiten. Und selbst wenn sie offenstehen, garantiert das noch kein glückliches Leben“, führen die Ausstellungsmacher zutreffend hinsichtlich der Textbezüge Kafkas zwischen Tod und Türen aus.
Die Irrwege des Karl Rossmann in „Der Verschollene“ alias „Amerika“ beginnen mit dessen Öffnen der Türe zum Schiffs-Heizungsraum. Im „Schloss“ schwirrt dem Landvermesser K. der Kopf von den zahlreichen Türen eines Amtsflures, die immer ein wenig geöffnet und wieder geschlossen werden und vor denen gelegentlich ein Aktenwagen hält. In „Heimkehr“, einer sehr kurzen Erzählung von nur 20 Sätzen, wagt es der zurückkehrende Sohn nicht, nach seinen Jahren in der Fremde an die Tür des väterlichen Hofes anzuklopfen, da er fürchtet, nicht willkommen zu sein.
Diese und andere Tür-Episoden aus den Erzählungen Kafkas werden dem Ausstellungsbesucher in einer Rauminstallation mit Hör-Stationen und Textmaterialien nähergebracht und in Beziehung zu seiner Biografie gestellt, die am 3. Juni 1924 in einem bei Wien gelegenen Sanatorium tuberkulosebedingt vorzeitig an ihr Ende gelangt. Nur drei Tage später verfasst Kafkas letzte Brieffreundin, die Journalistin und Übersetzerin Milena Jesenská, einen Nachruf, der noch heute beeindruckt durch das tiefe Verständnis und die Reflexionsschärfe der Autorin gegenüber dem Leben und dem Schaffen Franz Kafkas.
Instruktive Texttafeln beantworten Fragen beispielsweise zu Kafkas Verhältnis zum Vater, zu den technologischen Neuerungen um die Jahrhundertwende und zu seiner Tätigkeit als Versicherungs-Jurist; Originalinterviews beginnend mit seinem Freund und Nachlassverwalter Max Brod umreißen im letzten Ausstellungsraum die Kafka-Rezeption bis 2024 mit dem erst vor wenigen Wochen in die Kinos gekommenen Spielfilm über Kafkas letztes Lebensjahr, „Die Herrlichkeit des Lebens“. So zeigt die gelungene Zürcher Ausstellung, wie auch 100 Jahre nach Kafkas Tod neue Aspekte und Zugänge sein Werk für die Gegenwart bewahren und in die Zukunft weisen lassen. DER KLASSIKKRITIKER
Roman Haubenstock-Ramati, „Amerika“. Premiere am Opernhaus Zürich am 3. März 2024; besuchte Vorstellung am 9. März. Folgeaufführungen: 15. und 24. März sowie 6. und 13. April 2024. Weitere Informationen:
https://www.opernhaus.ch/spielplan/kalendarium/amerika
Kafka – Türen, Tod Texte. Ausstellungsbesuch im Museum Strauhof Zürich am 10. März 2024. Noch bis zum 12. Mai 2024. Weitere Informationen:
https://strauhof.ch/programm/aktuelle-ausstellung