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VON ZEITLOSER SCHÖNHEIT – Das Stuttgarter Ballett huldigt John Cranko mit der hinreißenden Wiederaufnahme von Tschaikowskys „Schwanensee“

Wahre Klassiker sind unsterblich. Was für die Meisterwerke unbestritten gilt, dürfen deren Interpreten indessen nicht so selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Gleichwohl gibt es künstlerische Umsetzungen von meisterlicher Hand, welche die Aufführungen von solch bedeutenden Zeugnissen der Musik- oder Theatergeschichte zu seltenen Sternstunden werden lassen und die es wert sind, über ihre Entstehungszeit hinaus der Nachwelt überliefert und zugänglich gemacht zu werden. Und dann wirkt selbst nach 60 Jahren ungeachtet der zwischenzeitlich verlaufenen Rezeptionsgeschichte solch eine Werksicht überwältigend und hinreißend in seiner zeitlosen Schönheit.

Selbstverständlich bedarf es hierfür neben der Bereitschaft, sich auf eine jahrzehntealte Konzeption einzulassen, der handwerklichen Kompetenz und kreativen Fertigkeit – man ist versucht, den altgriechischen Begriff der techné zu gebrauchen –, um sie mit Leben und Spannung zu erfüllen, nicht die Asche anzubeten, sondern das Feuer neu zu entflammen, das in der einstigen Interpretation steckt.

Mit der Wiederaufnahme von Tschaikowskys „Schwanensee“ in der selbst zum Klassiker gewordenen Choreographie von John Cranko aus dem Jahr 1963 ist dies dem Stuttgarter Ballett auf geradezu sensationelle Weise gelungen. Alleine die wunderbaren Bühnenbilder und geschmackvollen, bis ins Detail ausgefeilten Kostüme von Jürgen Rose nehmen den Betrachter von Anbeginn ein – ein prachtvolles und in sich stimmiges Interieur für die Spielebenen vor und im königlichen Schloss, wunderbare Natur- und Nachtstimmungen in den Szenen am See. Im Zusammenwirken mit den in makelloser Symmetrie arrangierten Tänzerinnen für die Gruppe der Schwäne entstand ein Bühnenzauber in vollendeter Schönheit, jede Pose voller Poesie.

Schwanensee
Chr: John Cranko
TänzerInnen/Dancers: Elisa Badenes, Henrik Erikson, Mackenzie Brown, Daiana Ruiz, Ensemble

© Stuttgarter Ballett

Überhaupt agiert in dieser Wiederaufnahme jede/r Einzelne in dieser Compagnie mit jener Verbindung aus Disziplin und Anmut, welche einmal wieder den internationalen Rang des Stuttgarter Balletts unterstreicht. In der vom Ballettintendanten Tamas Detrich persönlich verantworteten Wiederaufnahme wird jede scheinbar noch so kleine Nebenrolle wichtig genommen, beispielsweise der Freund und die Begleiter des Prinzen mit ihrer makellos präzisen Tanzburleske im ersten Akt. Hierbei wie auch im weiteren Verlauf zeigt sich, wie minutiös Cranko seinerzeit und Detrich jetzt die Bewegungsabläufe aus jeder Phrase von Tschaikowskys Musik herausentwickelt haben, was sich in der Führung der ausgezeichnet besetzten Protagonisten mit einem grandiosen Henrik Erikson als Prinz Siegfried an der Spitze der Männerriege fortsetzt, wenn beispielsweise eine kleine Fingergestik ganz selbstverständlich mit einem Flötentriller einhergeht. Überdies überzeugt Erikson, wie er souverän zwischen athletischer Dynamik und nuancierter Subtilität zu differenzieren versteht.

Vergleichbar vielgestaltig: das Ausdrucksspektrum von Elisa Badenes. Als Odette gelingt ihr überzeugend das von subkutaner Liebessehnsucht durchwirkte Scheue und Zerbrechliche in graziler Eleganz, als Odile die luzide Sinnlichkeit und das latent Laszive. Und mit geradezu atemberaubendem Tempo bei zugleich schritttechnischer Präzision krönt sie den Grand pas de deux mit den berühmten Fouettées. Das Publikum raste vor Begeisterung.

Schwanensee
Chr: John Cranko
TänzerInnen/Dancers: Elisa Badenes, Henrik Erikson, Ensemble

© Stuttgarter Ballett

Nach dem Schlussvorhang galten die Ovationen zurecht dem gesamten Ensemble, von dem der klingsoresk-dämonische Böse Zauberer Rotbart (Clemens Fröhlich) besonders gewürdigt seien, welcher im pas de trois mit Prinz Siegfried und Odile als höhnischer Totentanzmeister beeindruckte, desgleichen die vier Prinzessinnen im Thronsaal-Akt, welche ihre Nationaltänze dankenswerterweise von jedwedem Folklorekitsch befreit hatten. Am Dirigentenpult des bestens aufgelegten Staatsorchesters Stuttgart mit den beiden hervorragenden Solisten Evgeny Schuk (Violine) und Zoltan Paulich (Cello) bewies Wofgang Heinz großen symphonischen Atem für Tschaikowskys facettenreiche Partitur und spürte den silbrig glänzenden Seestimmungen gleichermaßen treffsicher nach wie Prinz Siegfrieds sehnsuchtsvollem Liebesmotiv oder Rotbarts musikalisch zugespitzter Destruktivität. Gern würde man ihn einmal mit den vier zu Unrecht im Repertoireabseits stehenden Orchestersuiten von Tschaikowsky hören, deren erste drei Vieles aus der „Schwanensee“-Musik reflektieren. DER KLASSIKKRITIKER

Wiederaufnahme und besuchte Vorstellung am 6. April 2024; Folgeaufführungen am

10., 13., 28.4., 10., 12., 14., 17., 18., 20., 27., 29., 31.5., 3.6. sowie 19. und 20.7.24. Weitere Informationen:

https://www.stuttgarter-ballett.de/spielplan/a-z/schwanensee-2023-2024

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ANTIKENDRAMA IM KLANGRAUSCH – Grandiose Eröffnungspremiere der Osterfestspiele Baden-Baden mit „Elektra“

So textgenau wie jetzt bei den Osterfestspielen in Baden-Baden dürfte Richard Strauss‘ „Elektra“ bislang kaum inszeniert worden sein. Regisseur, Bühnenbildner und Lichtdesigner Philipp Stölzl im Verbund mit Co-Regisseur Philipp M. Krenn und Kostümbildnerin Kathi Maurer integriert nämlich jedes Wort von Hugo von Hofmannsthals Libretto durch Videoprojektionen in den Bühnenraum. Dabei passen sich die einzelnen Worte in Schriftgröße, Grafik und Projektionstempo dem musikalischen Fluss an. So wird auf bezwingende Weise deutlich, wie eng diese Oper aus dem ursprünglichen Schauspieltext Hofmannsthals heraus modelliert worden ist. Zugleich setzt eine ausgefeilte und vielgestaltige Personenführung mit ihrer minutiös aus den musikalischen Phrasen und Motiven abgeleiteten Mimik und Gestik die inneren und äußeren Konflikte der Protagonisten spannungsreich zueinander in Beziehung. Das Bühnenbild wiederum, das in seinen genauso klaren wie strengen Formen archetypisch gehalten ist, lässt dank vortrefflicher Lichtregie die rasch wechselnden emotionalen Stimmungen visuell changieren.

So erweist sich die Bühne als jener kongeniale atmosphärische Raum für die Funkenvielfalt, welche Kirill Petrenko mit den großartig disponierten Berliner Philharmonikern aus dem Orchestergraben schlägt. Mit glutvoller orchestraler Wucht und angemessen expressionistischer Deutlichkeit setzt er die Sogkraft von Richard Strauss‘ Partitur in farbenreichen Klang um, ohne dabei über die zahlreichen transparenten und zarten Zwischentöne hinweg zu musizieren. Und wie nuancierend er die Polyphonie der Stimmungen und Affekte von Strauss‘ Orchesterbehandlung auffächert, schreibt die Annalen der „Elektra“-Aufführungsgeschichte von Böhm über Solti würdig fort.

Nina Stemme singt die Titelrolle mit prächtiger Strahlkraft und schier unermesslichem Stehvermögen, verfügt über Steigerungspotenziale bis zum finalen Totentanz. Schon ihre einleitende „Agamemnon“-Anrufung mit anschließendem, geradezu liebevollem mezza di voce zum Wort „Vater“ sind zum Niederknien. Auch im weiteren Verlauf bleibt sie bei allen noch so hochdramatischen Ausbrüchen stets der kultivierten Linienführung verpflichtet. Ihre milde Schwester Chrysothemis findet in Elza van den Heever jene ideale Balance aus dramatisch empfundener Durchschlagskraft und mädchenhafter Stimmfärbung, ihre Sehnsucht nach einem vermeintlich „normalen“, von Heirat und Fürsorge geprägten Familienleben mit ihren vokalen Schattierungen deutlich machend. Als Klytämnestra zeigt Michaela Schuster die innere Zerrissenheit einer sich in ihrer Existenz fortschleppenden, zwar noch nach Außen über königliche Macht gebietende, letztendlich aber gebrochenen Frau. Faszinierend, mit welchem Facettenreichtum die Vielschichtigkeit dieser Rolle von ihr aufgefächert wird, ihre unruhigen Tagträume genauso zur Geltung kommen wie ihr kurzes Triumphieren über Orestes vermeintlichen Tod.

Genauso sind die nachgeordneten Partien in Baden-Baden auf festspielwürdig hohem Niveau besetzt. Den Orest, von der Regie eindringlich als versehrten Kriegsheimkehrer wie Borcherts Beckmann in „Draußen vor der Tür“ gezeichnet, singt Johan Reuter edelbaritonal ergreifend. Seine Stimme wirkt markant, aber nie schwer. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke überzeugt klar artikulierend und metallisch hell timbriert in der Charakterrolle des Aegisth. Bei den kleineren Rollen lassen die blühende Stimmschönheit von Lauren Fagans fünfter Magd und der robuste junge Diener von Lucas van Lierop aufhorchen. Solide und zuverlässig: Der Prager Philharmonische Chor in der Einstudierung von Lukáš Vasilek. Insgesamt also eine von inszenatorischer Intelligenz und musikalischen Höchstleistungen getragene Premiere, welche die Osterfestspiele Baden-Baden einmal wieder als Leuchtturm der Strauss-Interpretation ausweist.

DER KLASSIKKRITIKER

Premiere am 23. März, Folgeaufführungen am 26. und 31. März.

Weitere Informationen: https://www.festspielhaus.de/veranstaltungen/elektra/

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Eingeordnet unter Kritik, Oper, Klassische Moderne, Strauss R.

OPERETTE ERNST GENOMMEN – Barrie Koskys kostümprächtige Neuinszenierung von Lehárs „Lustiger Witwe“ am Opernhaus Zürich

Kann man heute so ein Stück überhaupt noch aufführen, in dem eine Männergruppe zu zackigem Marschrhythmus über das ach so „schwere Studium der Weiber“ [sic!] räsoniert oder ein arbeitsscheuer Botschaftsangehöriger mit seinen diversen Beziehungen zu Lolo, Frou Frou und anderen Damen eines einschlägig bekannten Pariser Etablissements prahlt?

Ja – man kann, wenn das künstlerische Niveau hoch und die Inszenierung intelligent genug ist wie jetzt am Opernhaus Zürich, wo Barrie Kosky scharfsinnig zwischen dem Stück als solchen und dessen fragwürdiger Rezeption in den sechziger und siebziger Jahren differenziert, es vom sexistischen Johannes Heesters- und Peter Alexander-Ballast befreit, auch jene meist gestrichenen Musiknummern wieder einführt, in denen die Männer ihr Fett weg bekommen und in der Figur der Hanna Glavari deren emanzipatorische Züge akzentuiert. Und wenn im can-canesken Ballett der Grisetten Tänzerinnen und Tänzer gleichermaßen ihre Röcke werfen, sind die alten Grenzen ohnehin verwischt, und dem Klamauk (von dem es laut dem Regisseur in einer Operette „nie genug geben kann“) darf gefrönt werden.

Ansonsten setzt Koskys Zürcher Neuinszenierung auf prachtvolle Kostüme (Gianluca Falaschi), geschmackvolles Interieur (Klaus Grünberg) und rasantes Spieltempo, mit dem in der besuchten Vorstellung einzig die kurzfristig für Marlis Petersen eingesprungene Elissa Huber als Hanna nicht so ganz mithalten konnte, auch in der Ausdrucksgestaltung recht kühl und distanziert blieb. Die Stimme hatte etwas Angestrengtes und blühte auch nicht wie beispielsweise jene von Katharina Konradi, welche die Partie der Gegenspielerin Valencienne übernommen hatte, ihrer schön geführten Höhe Silberglanz verlieh und gestalterisch einen verschmitzten Schuss Koketterie auf die Bühne gebracht hat. Kim Duddy sorgte für federnde Balletteinlagen, Ernst Raffelsberger für die präzise Choreinstudierung.

Die übrigen sängerischen Leistungen waren hochwertig. So gefiel bei den Herren  Andrew Owens (Camille) mit tenoralem Schmelz; einen leichten Höhenengpass überspielte er gekonnt. Martin Winkler, welcher den KLASSIKKRITIKER 2022 bei den Münchner Opernfestspielen als furchterregend bassorgelnder Exorzist in Pendereckis „Teufel von Loudon“ beeindruckte, reüssierte nun auch im Operettenfach als nachgerade stentoraler Baron Zeta.  Wer jedoch den Abend zum künstlerischen Großereignis hat werden lassen, war Michael Volle in der Rolle des Grafen Danilo. Schon sein Auftrittscouplet sorgte für Süffisanz gleichermaßen wie Süffigkeit. Hinzu kamen die elegante Stimmfärbung und Ausdruckskraft wie auch  sein wagnererfahrenes, differenziert gehandhabtes Volumen. Und er legte den Facettenreichtum dieser Figur frei, zeigte insbesondere im zweiten Finale die Tragik hinter dem Tändelnden. Da klang der angekündigte Gang zum Maxim eben nicht mehr wie noch im ersten Akt nach oberflächlicher Lust-Vorfreude, sondern nach Verzweiflung über die vermeintlich verlorene Liebe von Hanna, der zu entsagen er sich, einem Sachs vergleichbar, selbst auferlegte und doch darunter bitterlich litt.

Als Glücksfall erwies sich das Dirigat von Patrick Hahn, der sein kapellmeisterliches Handwerk als einstiger Assistent von Kirill Petrenko vervollkommnete. Von diesem übernahm er die punktgenaue Präzision und Konturenschärfe. Darüber hinaus wurde er den vielfältigen Nuancen von Lehárs  farbenreich instrumentierter Partitur gerecht, bewies sowohl eine lockere Hand als auch Sinn für große Bögen und entfaltete in den Tänzen und Finalsteigerungen ein funkelndes Orchesterfeuerwerk. So hört man Operette gern! DER KLASSIKKRITIKER

Premiere am 11. Februar, besuchte Vorstellung am 10. März 2024. Folgeaufführung am 14. März 2024. Weitere Informationen: https://www.opernhaus.ch/spielplan/kalendarium/die-lustige-witwe/

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Eingeordnet unter Kritik, Oper

ZÜRICH IM ZEICHEN DES KAFKA-GEDENKJAHRES – Roman Haubenstock-Ramatis Meisteroper „Amerika“ im Opernhaus und die Ausstellung „Türen, Tod & Texte“ im Museum Strauhof

Offen endende oder Fragment gebliebene Romane scheinen eine umso größere Inspirationsquelle für Komponisten zu sein, wenn sie, als ihre eigenen Librettisten, aus dem Korsett der Konvention ausbrechen und keine Geschichten durch Musik illustrieren wollen, sondern Atmosphärisches verdichten und dramaturgisches Neuland erreichen möchten, was zur Entstehungs- und Uraufführungszeit solcher Werke oft auf Unverständnis stößt und im Rückblick darauf geradezu visionär erscheint. Gottfried von Straßburgs unvollendetes Tristan-Epos führte durch Richard Wagner zu einem, zunächst als unspielbar abgelehnten, bahnbrechenden und noch für Komponisten-Generationen nach ihm richtungsweisenden Bühnenwerk, dabei zugleich einen der Gipfelpunkte der damaligen Avantgarde markierend, und rund 100 Jahre später ließ der polnische Komponist jüdischer Herkunft Roman Haubenstock-Ramati mit seiner Opernversion auf der Grundlage von Franz Kafkas unvollendetem Roman „Der Verschollene“ das bisherige Musiktheater hinter sich, um in – in vollem Wortsinne – unerhörte Klangwelten vorzustoßen.

Berlin 1966 – Der Uraufführungs-Skandal

Die Uraufführung 1966 an der Deutschen Oper Berlin endete im wütenden Publikumsprotest, und nach einer weiteren Aufführung wurde das Werk vom Spielplan abgesetzt: Ähnlich wie 100 Jahre zuvor bei Wagners „Tristan“  waren auch bei Haubenstock-Ramatis „Amerika“ das Publikum genauso wenig aufnahme- wie das produzierende Theater aufführungsbereit für ein solches, alles Bisherige hinter sich lassende Unterfangen mit seinen  – in vollem Wortsinne – unerhörten Klangwelten. Nicht ein, sondern gleich drei Orchester werden verlangt, dazu Sprechchöre, Pantomimen, Schauspieler und 7 Gesangssolisten/innen, die 15 Rollen vorzustellen haben. Mehrere im Raum verteilte Lautsprecher ziehen das Publikum überdies in einen unerbittlichen Klangsog, der seinerseits über viele Teile hin nicht nur herkömmlich, sondern auch grafisch notiert ist und in der Anordnung seiner einzelnen Teile durch ein vom Komponisten sogenanntes „Mobile“-Verfahren den Ausführenden zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.

Dies war sogar für ein großes Haus wie der Deutschen Oper in den sechziger Jahren absolutes Neuland, angefangen bei den tontechnischen Möglichkeiten für die Zuspielungen der Lautsprecher-Raumklänge, die damals auf bescheidene 4 Kanäle beschränkt blieben. Was dem Komponisten vorschwebte, lässt sich erst heute mittels der modernen Surround-Verfahren realisieren.  Die Solopartien mit ihrer auf Schönbergs Pierrot lunaire zurückführbaren Sprechmelodie und dem rhythmisierten Sprechgesang, wie ihn beispielsweise auch Alban Berg in Wozzeck und Lulu einsetzte, waren ebenfalls noch kein Allgemeingut in der Theaterpraxis, genauso wenig die Clipping-Dramaturgie, welche Kafkas Roman auf 25 kurze, teilweise nur 90 Sekunden dauernde Szenen reduzierte.

In der Anordnung der Szenen folgt Haubenstock-Ramati Kafkas Textvorlage ziemlich genau. Er beginnt mit der Überfahrt des von seinen Eltern nach Amerika verschickten 17-jährigen Karl Rossmann, der sich mit einem Schiffsheizer anfreundet, vorübergehende Aufnahme bei seinem Onkel Jakob findet, von diesem jedoch des Hauses verwiesen wird, weil er gegen Jakobs Willen dessen zwielichtigen Geschäftspartner Pollunder besucht und sich dabei in ambivalenten Gefühlswirrungen gegenüber Pollunders Tochter Clara verfängt. Er schlägt sich als Liftboy in einem Hotel durch, wird durch eine Intrige des Oberportiers hinausgeworfen, lässt sich mit zwei Kleinkriminellen  und einer zur Dirne verkommenen gescheiterten Sängerin ein, um schließlich in einem absurden Naturtheater in Oklahoma zu landen, bei dem Teufel und Engel gleichermaßen die Trompeten blasen.

Autobiographische Bezüge

Roman Haubenstock-Ramatis Nähe zu diesem Kafka Stoff ist nicht zufällig. Auch er durchlitt Lebensphasen des Geworfen- und Ausgestoßenseins. „Ja, da gibt es sicher Ähnlichkeiten“, bekannte der Komponist ein Jahr vor seinem Tod in einem Interview mit Reinhard Kager. „Alles, was ich schreibe, beinhaltet gewisse, meist versteckte Motive, die mich ganz persönlich betreffen“. 1919 in Krakau geboren, musste er aufgrund seiner jüdischen Herkunft vor den Nazis fliehen, wurde jedoch schon in Lemberg wegen angeblicher konterrevolutionärer Umtriebe und Spionage von den russischen Besatzern verhaftet. Wieder auf freien Fuß gesetzt, schloss er sich einer polnischen Exilarmee an, bis er 1945 wieder nach Krakau zurückging, um 1947 erneut – jetzt vor den Repressalien des sozialistischen Regimes – zu fliehen und in Israel Zuflucht zu finden. Dort war es ihm zunächst nicht vergönnt, künstlerisch Fuß zu fassen; über Paris und Zürich gelangte er nach Wien, wo er Hauskomponist, später Cheflektor des Musikverlags Universal Edition wurde. 1973 übernahm er eine Professur an der Musikhochschule in Wien, wo er 1994 starb.

Wie Kafka, erzählt auch Haubenstock-Ramati seine Oper ganz aus der sich immer mehr verengenden Perspektive des Antihelden Karl. Durch die Sogkraft der Musik gelangt der Betrachter immer mehr in die Verstrickungen des jungen Manns hinein, für die Karl letztendlich kein Vorsatz oder gar Verschulden trifft, er jedoch auch keine eigenen Handlungsmöglichkeiten zum Ausbrechen hat. Man verzweifelt schließlich mit ihm an dieser ausweglosen Verlassenheit.

Regisseur Baumgarten übt subkutan Amerika-Kritik

In seiner faszinierend stimmigen Inszenierung, die auf den Punkt korrelierte mit dem Dirigat von Gabriel Feltz, lässt Sebastian Baumgarten am Opernhaus Zürich dieses komplexe Bühnenwerk im Kafka-Gedenkjahr kongenial Gestalt annehmen. Plumpe Aktualisierungsversuche, die möglicherweise manch anderen Regisseur angesichts der aktuellen politischen Weltlage im Vorfeld des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf gereizt hätten, sind Baumgartens Sache glücklicherweise nicht. Die Amerika-Kritik in seiner Inszenierung ist subkutan, ähnlich wie jene bei Kafka, der dort nie war, wiewohl gründlich über die Vereinigten Staaten recherchiert hatte und skeptische Vermutungen über gesellschaftliche Entwicklungen hegte, die sich nach seinem Tod als genauso wahr werdend entpuppten wie jene über den Totalitarismus im Nazideutschland.

Hierfür entwickelt Baumgarten eine bezwingende Bildsprache und minutiös gesteuerte Bewegungsabläufe, derer es auch bedarf, wenn über 68 im Theaterraum verteilte Lautsprecher neben dem Live-Orchester zwei weitere Orchester, Sprechchöre und teils auch solistische Gesangsabschnitte mittels Tonträger eingespielt werden; Sounddesign (Raphael Paciorek) und Klangregie (Oleg Surgutschow) verdienen hier als veritable Partner des Dirigenten ein dickes Sonderlob. Schon die erste Szene zieht den Betrachter in Bann, wenn die Freiheitsstatue zusammen mit dem Gepäck der in New York anlandenden Schiffspassagiere in den Schlund einer riesigen Registrierkasse geworfen wird, in welcher ameisenhafte Schreiberlinge ganz kafkaesk mit einer in ihrer Stereotypie erschreckenden Emsigkeit ihren bürokratischen Geschäften nachgehen. Bis zur Schlussszene mit ihrer ins Absurde gewendeten Karikatur eines Disneyland-Amerikas, zu dem der Komponist mit der geradezu ätzend eingesetzten falschen Süßlichkeit der Celesta-Klänge das Seinige liefert, machen Baumgarten wie Feltz überdeutlich, dass es aus dieser Welt kein Entrinnen gibt.

Gabriel Feltz‘ hohe dirigentische Kunst

Nicht nur der komplexe Aufführungsapparat ist für den Dirigenten eine besondere Herausforderung, sondern auch die Strukturierung der Opernpartitur. Sowohl die grafisch notierten Teile als auch die Mobile-Passagen bedürfen sinnfälliger Lösungen und Absprachen im Vorfeld. Denn wenn eine Sängerin oder ein Instrumentalist in einem bestimmten Zeitrahmen das Tempo verlangsamen oder beschleunigen, ja sogar einzelne Abschnitte umstellen und anders anordnen können, muss dies mit den anderen Beteiligten koordiniert werden und zu den Einspielungen passen, die während der Aufführung natürlich nicht mehr verändert werden können. So wurde in Zürich ein sekundengenaues Zeitraster entwickelt, um die Freiheiten des Einzelnen in das Gesamtgefüge einzugliedern. Hierfür das Steuerrad fest in der Hand zu behalten und zugleich künstlerische Akzente zu setzen, also nicht nur Zeitabläufe, sondern auch Emotionen zu lenken, ist hohe dirigentische Kunst.

Sehr deutlich wurde dies in den „Vermutungen über ein dunkles Haus“, ein Orchester-Zwischenspiel, das Haubenstock-Ramati auch als eigenes symphonisches Werk veröffentlicht hat. Feltz entfaltet dafür eine klanggewordene Atmosphäre des Grauens, die Erschauern lässt.

Sängerische Exzellenz

Bei den Gesangssolisten fesselt Tenor Paul Curievici in der Titelrolle. Er wie auch alle seine Kollegen/innen vermögen es, souverän zwischen auskomponierten Gesangslinien, rhythmischem Sprechen und Sprachmelodien hin und her zu wechseln. Robert Pomakov verleiht den vier Rollen des Heizers, Pollunders, Robinsons und ersten Landstreichers seinen kraftvoll dröhnenden Bass. Messerscharf und robust gibt Ruben Drole den Oberportier, Direktor und Onkel Jakob. Georg Festl unterstreicht teuflisch die vier fiesen Charaktere, die er vorzustellen hat, überzeugt besonders als Delamarche.

Bei den Damen platziert Mojca Erdmann als sadistisch angewandelte Klara glasklare Koloraturen und perfekte Tonsprünge auch zwischen entlegenen Registern. Genauso überzeugt sie in der absolut konträr angelegten Partie der Therese oder wenn sie Duett mit sich selbst und ihrer zusätzlich über Lautsprecher eingespielten Stimme zu singen hat.  Stimmlich vergleichbar weiträumig und mit makellosem Differenzierungsvermögen gibt Allison Cook die Brunelda. Darstellerisch legt sie die Figur noch mondäner an, als sie bei Kafka gezeichnet ist. Starke Bühnenpräsenz zeigt Irène Friedli als Oberköchin. Und die von Takao Baba choreographierten Tanzszenen sind brillant.

Die Produktion wird flankiert durch ein exzellentes Programmheft und eine Ausstellung von Haubenstock-Ramatis graphischen Partiturseiten, beides verantwortet von Claus Spahn. Was für ein Meisterwerk der klassischen Moderne! Und was für eine grandiose Aufführungsqualität! Man müsste noch öfters hingehen, um Haubenstock-Ramatis „Amerika“ in all seinen Verästelungen aufnehmen zu können.

Kafka-Ausstellung im Museum Strauhof

Nicht minder lohnt der Ausstellungsbesuch „Kafka – Türen, Tod &Texte“ im Zürcher Museum Strauhof, kuratiert von Rémi Jaccard und Philip Sippel. Tagebucheinträge, Briefe und Textauszüge aus den Erzählungen des Dichters kreisen um die genauso existenzialistischen wie endzeitlichen Abgründe, in die Kafka seine Protagonisten immer wieder von Neuem stürzen lässt, wobei geradezu leitmotivisch der Tür eine besondere Bedeutung zukommt, was sich keineswegs nur auf die Szene mit dem Türhüter im fatalistischen Roman „Vor dem Gesetz“ bezieht. „Charakteristische Themen wie Angst, Macht und Scham stehen oft in Bezug zu Türen: Sei es die Abschottung vor der Außenwelt, sei es die Sorge, was dahinter wartet, oder die Unmöglichkeit, sie zu durchschreiten. Und selbst wenn sie offenstehen, garantiert das noch kein glückliches Leben“, führen die Ausstellungsmacher zutreffend hinsichtlich der Textbezüge Kafkas zwischen Tod und Türen aus.

Die Irrwege des Karl Rossmann in „Der Verschollene“ alias „Amerika“ beginnen mit dessen Öffnen der Türe zum Schiffs-Heizungsraum. Im „Schloss“ schwirrt dem Landvermesser K. der Kopf von den zahlreichen Türen eines Amtsflures, die immer ein wenig geöffnet und wieder geschlossen werden und vor denen gelegentlich ein Aktenwagen hält. In „Heimkehr“, einer sehr kurzen Erzählung von nur 20 Sätzen, wagt es der zurückkehrende Sohn nicht, nach seinen Jahren in der Fremde an die Tür des väterlichen Hofes anzuklopfen, da er fürchtet, nicht willkommen zu sein.

Diese und andere Tür-Episoden aus den Erzählungen Kafkas werden dem Ausstellungsbesucher in einer Rauminstallation mit Hör-Stationen und Textmaterialien nähergebracht und in Beziehung zu seiner Biografie gestellt, die am 3. Juni 1924 in einem bei Wien gelegenen Sanatorium tuberkulosebedingt vorzeitig an ihr Ende gelangt. Nur drei Tage später verfasst Kafkas letzte Brieffreundin, die Journalistin und Übersetzerin Milena Jesenská, einen Nachruf, der noch heute beeindruckt durch das tiefe Verständnis und die Reflexionsschärfe der Autorin gegenüber dem Leben und dem Schaffen Franz Kafkas.

Instruktive Texttafeln beantworten Fragen beispielsweise zu Kafkas Verhältnis zum Vater, zu den technologischen Neuerungen um die Jahrhundertwende und zu seiner Tätigkeit als Versicherungs-Jurist; Originalinterviews beginnend mit seinem Freund und Nachlassverwalter Max Brod umreißen im letzten Ausstellungsraum die Kafka-Rezeption bis  2024 mit dem erst vor wenigen Wochen in die Kinos gekommenen Spielfilm über Kafkas letztes Lebensjahr, „Die Herrlichkeit des Lebens“. So zeigt die gelungene Zürcher Ausstellung, wie auch 100 Jahre nach Kafkas Tod neue Aspekte und Zugänge sein Werk für die Gegenwart bewahren und in die Zukunft weisen lassen. DER KLASSIKKRITIKER

Roman Haubenstock-Ramati, „Amerika“. Premiere am Opernhaus Zürich am 3. März 2024; besuchte Vorstellung am 9. März. Folgeaufführungen: 15. und 24. März sowie 6. und 13. April 2024. Weitere Informationen:

https://www.opernhaus.ch/spielplan/kalendarium/amerika

Kafka – Türen, Tod Texte. Ausstellungsbesuch im Museum Strauhof Zürich am 10. März 2024. Noch bis zum 12. Mai 2024. Weitere Informationen:

https://strauhof.ch/programm/aktuelle-ausstellung

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VOM UNGLEICHGEWICHT VON WERK UND WIEDERGABE – Uraufführung von Frank Witzels und Bernhard Langs „Dora“ an der Staatsoper Stuttgart

Nur selten steht bei einer Uraufführung die hohe Qualität der Ausführenden in solch krassem Gegensatz zur dünnen Substanz und Interessantmacherei von Text und Musik. Mit „Dora“ haben der Schriftsteller Frank Witzel und der Komponist Bernhard Lang eine Titelfigur kreiert, die sie allen Ernstes in eine Reihe mit den großen Operntragödinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere Brünnhilde und Elektra, stellen wollen. Doch mit den abgründigen schicksalshaften Verstrickungen dieser auf die antike griechische Tragödie zurückführbaren Frauengestalten und der großen Fallhöhe der um sie herum gruppierten Protagonisten bei Wagner oder Strauss-Hofmannsthal hat nun diese neue Oper alleine aufgrund ihres verzwergten Handlungsrahmens auf eine spießige Kleinfamilie in einer drögen Reihenhaussiedlung, deren Alltags-Banalitäten zu Konflikten zwischen den Eltern und ihren drei Kindern aufgeblasen werden, nichts zu tun. Da hilft dann auch nicht das ungenierte Zitieren von Wagners „Götterdämmerung“ im ersten Teil und gegen Ende des Stücks, die geradezu unverfrorene Anspielung auf Strauss‘ „Elektra“ oder gar das fast vollständige Absingen eines Schubert-Lieds aus der „Schönen Müllerin“.

Langs Partitur steckt voller solcher Übernahmen und Zitate, zu denen er sich wie übrigens auch sein Textautor Witzel im Programmheft freimütig bekennt und denen beide einen bedeutungsschwangeren, intellektuell sein sollenden Überbau zuschreiben. Ansonsten arbeitet er gern mit Loops von formelhaft um sich selbst kreisenden Wendungen und einer exzessiven Rhythmik, die insbesondere in der Behandlung des von ihm expressis verbis so genannten „Antiken Chors“ ihre Anleihen bei Carl Orff nicht verhehlt.

Forciert wird diese Fokussierung auf das Rhythmische – auch dies verweist auf Orff – durch die mitunter schon penetrante Verwendung des Schlagzeugs. Schon zu Beginn knallt und lärmt es aus der Mittel- und den beiden Proszeniumslogen, ohne dass klar wird oder sich auch im weiteren Verlauf der Handlung erklären würde, wozu. Denn ein dramaturgischer Bezug wird hier genauso wenig erkennbar wie beim Wort-Ton-Verhältnis, wenn später die Sänger/innen mit ins Spiel kommen, die ihrerseits, insbesondere was die Partie der Dora anbelangt, immer wieder in einen straff rhythmisierten Sprechgesang fallen müssen. Diese so entstehenden klanglichen Dauerschleifen, die sich über die ein-dreiviertelstündige Aufführungsdauer abnutzen, vermögen nur schwerlich die für eine Oper so wichtige musiktheatralische Unbedingtheit herzustellen: Zu unverbindlich und austauschbar wirken die einzelnen Gelenkstücke der Partitur, denen es an dramatisch formbildender und dramaturgisch formender Kraft über weite Strecken hin fehlt. Das bewirkt Längen und erschwert zugleich das Nachvollziehen der inneren Notwendigkeit für die Anwendung der zum Einsatz gebrachten Mittel.

Genauso wenig vermag das Textbuch mit seiner pseudosozialkritischen Erzählung von der jungen Frau Dora überzeugen, die bei ihrem Versuch, aus dem reaktionären Mief ihrer Familie auszubrechen, in einem an die Wolfsschluchtszene aus dem „Freischütz“ erinnernden Ritual den Teufel heraufbeschwört. Diesen lässt Witzel in Anlehnung an Goethes Mephistopheles mit nihilistischem Zynismus schwadronieren, ohne dabei freilich an die fesselnde Wortgewalt des bedeutenden Faust-Dramas heranzureichen, auch wenn sein Teufel im Verlauf des Stücks ein Kostüm wie einst Gustaf Gründgens als Mephisto trägt. Dafür gibt es einfach viel zu viele Plattitüden wie zum Beispiel: „Des Schicksals Wege sind verworren, / und ist die Hoffnung erst verdorren, / sehnt man herbei, was man verwarf“. Das ist nicht nur banal, sondern auch grammatikalisch falsch. Doch die Stilblütensammlung beginnt schon mit der zweiten Verszeile in der ersten Szene, wenn Dora sinniert: „wie sich diese Landschaft von mir hassen lässt“. Eine Landschaft, die sich von einer Person hassen lässt? Wahrhaft seltsam. Genauso wie die Metapher, den Horizont als „bleichen Strich“ zu stilisieren. Und die Ödnis „sickert“ bei Witzel „durch alle Wände, tropft von der Decke in die Suppenschüssel und das Bier“. Na dann Prost.

Demgegenüber steht, mit welch aufopferungsvoller Hingabe und höchster künstlerischer Professionalität sich das Ensemble der Staatsoper Stuttgart unter der engagierten musikalischen Leitung von Elena Schwarz und die Inszenierung von Elisabeth Stöppler mit einer fantasievollen Visualisierung (Bühne und Kostüme: Valentin Köhler, Video: Vincent Stefan, Licht: Elana Siberski)  diesem Uraufführungsstück angenommen haben. Josefin Feiler, die wir schon als hervorragende Händel- und Hänselinterpretin erlebten, war nur zu bewundern, wie sie mit makelloser Präzision die Sprachrhythmik der Titelrolle herausarbeitete und in den (zu) wenigen vom Komponisten vorgesehenen Gesangsabschnitten geradezu aufblühte. Ihre Bühnenschwester sang Shannon Keegan tragfähig und gewandt wie erst jüngst Mozarts Papagena, Dominic Große empfahl sich als ihr Bruder auch für echte Opernpartien, als Elternpaar agierten ausgezeichnet Maria Theresa Ullrich und Stefan Bootz, Marcel Beekman brillierte in der Chargenrolle des Teufels, und vom edel-baritonalen Elliott Carlton Hines würde man gern einmal Schuberts „Schöne Müllerin“ im richtigen Sinnzusammenhang komplett hören.

Der „Antike Chor“ bestand aus Mitgliedern der Neuen Vocalsolisten, die so exzellent waren, dass sie hier im Einzelnen genannt und gewürdigt seien: Peyee Chen, Susanne Leitz-Lorey, Truike van der Pool, Frauke Elsen, Johannes Mayer, Martin Nagy, Guillermo Anzorena und Andreas Fischer.

DER KLASSIKKRITIKER

Uraufführung und besuchte Vorstellung am 3. März 2024, Folgeaufführungen am 4.,15, 22.3. und am 1. und 4.4. Weitere Informationen: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/dora/

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„LA FEST“ IN „THE LÄND“ – Die Staatsoper Stuttgart inszeniert ein Barock-Pasticcio aus 31 herrlichen Musiknummern

Als der Stuttgarter Intendant Viktor Schoner den Regisseur und Choreografen Eric Gauthier eingeladen hatte, eine Oper zu inszenieren, wollte dieser als Neuling in diesem Metier keines der bekannten Werke auf die Bühne bringen, sondern etwas ganz Ungewöhnliches kreieren, und er besann sich auf ein Verfahren, das bis ins späte 18. Jahrhundert durchaus gängige Praxis im Musiktheater war: das Pasticcio. Hierbei wurde ein neues Theaterstück mit einer neuen Handlung vorgeführt, die Musik allerdings aus bereits bestehenden Arien, Chören oder Tänzen von verschiedenen Komponisten kompiliert.

In Stuttgart lässt Gauthier zwei Handlungslinien parallel laufen. Zum einen bereitet sich eine Festgesellschaft – Gastgeberin gleichermaßen wie Gäste – auf ein Fest vor und kommt auf diese Weise in einem eleganten Rahmen zusammen, für den sich die Kostümbildnerin Gudrun Schretzmeier eine wunderbare Gewandung hat einfallen lassen. Zugleich wird die Geschichte der Gastgeberin erzählt, eine 90 Jahre alt geworden Dame, welche aus Anlass ihres runden Geburtstags „la Fest“ ausrichtet und dabei zugleich, den nahenden Tod vor Augen, all jene Feste Revue passieren lässt, die in ihrem Leben bedeutsam gewesen sind – die späte Hochzeit in ihren Fünfzigern, eine Studentenparty, ein Zusammenkommen in früher Kindheit.

Diesem Geschehen im klugen Bühnenbild von Susanne Gschwender stellt Gauthier einen Prolog voran, bei dem er in der Art eines Showmasters sein Team vorstellt und das Publikum gekonnt einbezieht, unter anderem zum gemeinsamen Singen mit dem Staatsopernchor animiert. Das kommt gut an, macht sicher Vielen, die bislang noch gar nicht oder nur wenige Male aus unbegründeten Schwellenängsten heraus in der Oper gewesen sind, Lust auf mehr und erfreut die Freaks genauso. Und im eigentlichen Teil der Aufführung geht Gauthier mit erkennbarer Spiellust in die Vollen, verbindet Schauspiel, Tanz, Musik, Licht und Farbe zu fantastischer Einheit, hat spürbar Freude an barocker Opulenz, inszeniert aber auch im Schlussgesang der alten Dame das in Barockstücken nicht minder bedeutsame Memento Mori mit großer Ernsthaftigkeit. Einmal abgesehen von der langatmigen Flaschendreherei-Szene bei der Studentenparty vergehen die pausenlosen 2 Stunden wie im Flug.

Natürlich gibt es in dieser Zeit, vom überflüssigen Rap-Remix von Bachs Air aus der dritten Orchestersuite einmal abgesehen, durchweg wunderbare Musik zu hören, die sonst kaum zu erleben ist. Gemeinsam mit dem einmal wieder vorzüglichen Solistenensemble bis hin zu Lia Grizelj vom Kinderchor der Staatsoper Stuttgart hat Benjamin Bayl Kostbarkeiten aus rund 150 Jahren Musikgeschichte ausgewählt wie von Leonardo Vinci, Georg Philipp Telemann oder Reinhard Keiser. Gleichwohl: So richtig überzeugend ist Bayl als Dirigent nur in jenen Musikteilen, die mit einer kleinen Orchester—Besetzung musiziert und von ihm vom Cembalo aus geleitet werden; bei den groß besetzten Stücken, gar noch mit Chor, verliert er immer wieder den Kontakt zu den einzelnen Stimmgruppen. Glücklicherweise lässt sich der von Manuel Pujol hervorragend einstudierte Stuttgarter Staatsopernchor wie auch das großartig sich diesen Repertoire-Raritäten annehmenden, von einem tollen Konzertmeister angeführte Stuttgarter Staatsorchester von den mitunter wenig plausiblen Dirigier-Bewegungen nicht irritieren. Auch an stilistischer Differenzierung wäre angesichts des reichen Angebots von Chor und Orchester noch mehr herauszuholen, doch in den großformatig gesetzten Werken von Rameau, Vivaldi, Purcell oder Steffani schlägt Bayl Tempi, Dynamik, Phrasierung und Artikulation über ein- und denselben Leisten. Dabei liegt doch gerade bei diesen Stücken der Reiz im Detail, wie er es ja in den kammermusikalisch besetzten Teilen beispielsweise von Graun oder Cavalli herausgearbeitet hat.

Bei den Sängerinnen und Sängern zentriert sich das Geschehen um die hinreißende Diana Haller, die nicht nur schauspielerisch die Figur der alten Dame mit ihrer Rückverwandlung in die junge Frau und die abschließende Sterbeszene glaubhaft über die Bühne bringt, sondern schon im Prolog mit ihrem herrlichen mezza di voce auf der ersten Textsilbe „Alto Giove“ aus Porporas Oper „Polifemo“ aufhorchen ließ. Sie gestaltet dies als hingebungsvolles Operngebet, bei dem sie die Koloraturen farbenreich als Ausdrucksträger und nicht als virtuosen Zierrat platziert. In Ricardo Broschis Gleichnis-Arier vom Schiff, das im wilden Wasser hin und her geworfen wird, artikuliert sie in kluger rhetorischer Umsetzung das mezza di voce-a wesentlich metallischer, wie auch Francesco Cavallis Rosinda-Arie mustergültig von ihr gestaltet worden ist.

Die Sopranistin Claudia Muschio differenziert glasklar und höhensicher ihre Aria di colera von jener di gelosia, ihre Kollegin Natasha Te Rupe Wilson steigt fulminant in das Duett aus Reinhard Keisers „Fredegunda“ ein, der Countertenor Yuriy Mynenko bringt Vivaldis Giustino zum Leuchten, Tenor Alberto Robert überzeugt im italienischen Fach mehr als im deutschen, und der Bariton Yannis François gefällt mit eleganter Stimmführung. Bewundernswert auch die Vielgestaltigkeit der Tänzer/innen mit einem stilistischen Spektrum bis hin zu Break dance und Gebärdensprache. Ein besonderer Abend!

DER KLASSIKKRITIKER

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