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WALDGEISTER UND MARIENVISIONEN – Bei den Opernfestspielen Heidenheim spielt Verdis selten zu erlebende Schiller-Oper „Giovanna d’Arco“ in der Psychiatrie

Shakespeare und Schiller sind jene Dichter, die für Verdis Bühnenwerke den Löwenanteil der literarischen Vorlagen ausmachen. Haben sich dabei die Shakespeare-Opern „Otello“ und „Falstaff“, mit gewissem Abstand auch der „MacBeth“ im Repertoire gehalten, sind die Schiller-Vertonungen hierzulande eher selten anzutreffen, vom „Don Carlos“ einmal abgesehen, doch selbst er wird kaum in seiner französischen Originalgestalt gegeben.

Die Auswahl der Schiller-Dramen durch Verdi ist dabei programmatisch und planvoll. Zwischen den „Räubern“, „Kabale und Liebe“, „Don Carlos“, dem „Wallenstein“ oder der „Jungfrau von Orléans“ gibt es einen inneren Zusammenhang: Schillers scharf akzentuierte Gesellschaftskritik, die sich gegen externe Unterdrückung gleichermaßen richtet wie gegen interne Repressionen. Alle diese Texte prangern die öffentlich ausgeübte feudal-aristokratische Gewalt genauso an wie den patriarchalisch-innerfamiliär ausgeübten Druck. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch Verdis Bühnenschaffen und fand in seinen Schiller-Dramen die kongeniale Ausprägung – allen Vorurteilen aus der Sicht national-romantischer Schulen und deren nationalistischer Apologeten in neuerer Zeit zum Trotz.

Es ist das Verdienst der Opernfestspiele Heidenheim, sich systematisch auch der unbekannteren Verdi-Opern zu widmen, in diesem Jahr seiner ersten Schiller-Oper von 1845, der „Giovanna d’Arco“, nach der 1801 vom Dichter in Verse gesetzten „Jungfrau von Orléans“, für die sich Jahre später auch noch Tschaikowsky interessieren sollte. Mit dieser Oper begann zugleich das Problem in der Beurteilung des Verdi-Schiller-Verhältnisses, denn nicht nur die Vertreter einer deutschen nationalen Kunstschule wurden von da an nicht müde, Verdi einen unangemessenen Umgang mit Schiller vorzuwerfen. Auch der italienische Librettist Temistocle Solera, der für Verdi das Textbuch einrichtete, wollte jenes als eigenständiges Werk verstanden wissen und behauptete allen Ernstes, sein Stück hätte nichts mit Schiller zu tun. Dabei folgte er sehr eng dem Schauspiel, sieht man einmal davon ab, dass König Karl von Frankreich selbst als Johannas Geliebter und nicht, wie bei Schiller, der Feldherr Lionel in dieser Funktion auftritt.

Einmal wieder macht Heidenheims künstlerischer Direktor Marcus Bosch deutlich, dass er den jungen Verdi ernst nimmt. Schon in den einleitenden Takten der Sinfonia zeichnet er ein Hörbild des Bedrohlichen, schichtet differenziert die einzelnen Klangbewegungen auf, arbeitet mit seinem hoch konzentriert präsenten  Projektorchester „Cappella Aquileia“ akribisch die Nebenstimmen heraus. Die Proportionen der Tempi sind stimmig gesetzt, Bühne und Graben exzellent miteinander ausbalanciert, und im Zugriff auf das gesamte Werk zeigt Bosch Verdis schon mit Anfang 30 hochentwickelte musikalische Fertigkeit und Charakterisierungskunst.

Im Mittelpunkt steht dabei die Titelfigur. Die unter anderem bei Elisabeth Schwarzkopf und Mirella Freni fortgebildete Sophie Gordeladze verbindet lyrische Anmut mit jugendlich-dramatischer Tragweite und überzeugt überdies durch tadellose Diktion und intensives Spiel. Demgegenüber stand Héctor Sandoval als Carlo hintan. Zwar hat auch sein angenehm schlanker Tenor raumfüllende Kraft; allerdings fällt auf, dass bei Übergängen vom oberen ins mittlere Register sein Piano nicht immer gedeckt ist.

Ausgezeichnet der Bariton: Luca Grassi beginnt als Giovannas Vater Giacomo volltönend und sonor bei bester Textverständlichkeit, durchmisst souverän große Stimmräume und verfügt über eine reiche Farbpalette. Bei den kleineren Rollen ließ Rory Dunne mit seiner Tiefenschärfe aufhorchen, und der Tschechische Philharmonische Chor Brünn in der Einstudierung von Michael Dvořák agiert kultiviert einschließlich der Soli.

Verdis Oper gleichermaßen wie Schillers Vorlage sind typische Werke ihrer Entstehungszeit. Die finale Marien-Apotheose Johannas wirkt heute genauso unwirklich, wie es die Waldgeister und Dämonen des Prologs sind, welche als Visionen die Titelheldin immer wieder heimsuchen, wodurch die Personen in ihrem Umfeld, beginnend mit ihrem Vater, zunehmend auf Distanz gehen. Für Regisseur Ulrich Proschka war dies der Ausgangspunkt, die Handlung in einer Psychiatrie anzusiedeln, in der Giovanna, offensichtlich eingewiesen von ihrem Vater, behandelt wird. Die Liebe zu Carlo, ihre Kriegstaten und ihre schlussendliche religiöse Verzückung werden als Wahnvorstellungen interpretiert. Die Stärke dieser Inszenierung zeigt sich dabei in den inneren seelischen Regungen Johannas im Konflikt mit ihren eigenen Ambivalenzen, den Erwartungen Dritter und den äußeren Bezugspersonen wie ihrem behandelnden Arzt, den sie als Talbot wähnt. In der vergleichsweise statuarischen Chorführung indessen blieb noch Luft nach oben. Bühnenbild und Kostüme von Lena Scheerer sowie das Lichtdesign von Hartmut Litzinger sind dramaturgisch sinnfällig konzipiert. Einmal wieder ein wertvoller Beitrag für die Rezeption des jungen Verdi auf deutschen Bühnen.

DER KLASSIKKRITIKER

Premiere und besuchte Vorstellung am 20. Juli 2023, Folgeaufführung am  22.7.,  weitere Informationen: https://www.opernfestspiele.de/tickets-spielplan/giovanna-d-arco-2.html

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