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100 Minuten Liebeswahn – Die Bayerische Staatsoper koppelt Purcells „Dido and Aeneas“ mit Schönbergs „Erwartung“

Schon in den einleitenden Takten zu Purcells der griechischen Mythologie entnommenen Oper „Dido und Äneas“ traf Andrew Manze am Pult des absolut stilsicher musizierenden Bayerischen Staatsorchesters durch seine kluge Tempowahl den elegischen Grundton der Partitur, wie er überhaupt die vielfältigen Affekte sehr gut herausarbeitete. Auch in Arnold Schönbergs Einakter „Erwartung“ fächerte der Dirigent die komplex geschichtete Partitur souverän auf, spürte Schönbergs Klangfarbenmelodie sensibel nach und entwickelte gemeinsam mit dem jetzt früh-expressionistisch groß besetzten Orchester das „Mahlerisch-Tristanische“ gleichermaßen klangsinnlich wie die eruptiven Ausbrüche und gelegentlichen Strauss‘schen Schwelgereien. Es verdient höchste Bewunderung, wie das Bayerische Staatsorchester in den rund 100 Minuten dieses Opernabends von der Barockmusik zur Zweiten Wiener Schule zu wechseln imstande war.

Gesungen wurde auf durchweg hohem Festspiel-Niveau. Ausrine Stundyte, die schon im vergangenen Festspielsommer in Pendereckis „Teufel von Loudon“ die Jeanne als ekstatisch bis verzweifelte Gefangene ihrer selbst facettenreich modellierte, gewann auch der Dido bezwingend abschattierte Nuancen des Schmerzes ab, zart, mitunter zerbrechlich bis hin zum ergreifenden, zu Herzen gehenden Klagegesang im Finale des dritten Akts. Auch Schönbergs Monodram sang sie schön, ausdrucksstark und mit ausgewogener Linienführung. Hinsichtlich der Diktion war sie allerdings im Englischen wesentlich sicherer unterwegs als im zugegeben sprachlich anspruchsvollen Schönberg-Libretto, wo es der Übertitelung wahrlich bedurfte.

Pointiert und prägnant übernahm Rinat Shaham die Partie der Venus, der zweiten Frau und der zweiten Hexe. Elmira Karakhanova, seit dieser Spielzeit Mitglied im Opernstudio der Bayerischen Staatsoper, sang die erste Hexe angemessen metallisch timbriert und dominant. Als Belinda ließ Victoria Randem optimale Rollenidentiät bei voller vokaler Substanz erkennen. Eindringlich fesselte der Countertenor Key’mon W. Murrah als Sorceress und Geistererscheinung des Merkurs, wie auch der baritonal-kernige Günter Papendell neben der Hauptrolle des Aeneas (die er glaubhaft und kompetent herüberbrachte) noch den Ersten Matrosen zu singen hatte.

Denn mit der von Vergil überlieferten mythologischen Handlung und den sie tragenden Figuren hatte der Regisseur der Münchner Inszenierung, Krzysztof Warlikowski, wenig im Sinn. Dido ist für ihn keine Königin und bewohnt auch keinen Palast, sondern einfach eine Frau namens Dido, die sich in ein Haus geflüchtet hat, das ihr nicht gehört. Aeneas segelt auch nicht mit Gefolge an ihr herrschaftliches Gestade, sondern er fährt mit einem schicken Auto vor, das allerdings offensichtlich eine undichte Stelle hat, muss er sich doch noch vor Eintreten in Didos Wohnküche unter sein Auto kriechen und dort etwas reparieren. Da braucht es natürlich keinen Matrosen mehr, zumal es in dieser Inszenierung auch keine Abreise des Titelhelden über die unendlichen Meeresweiten gibt, um das zerstörte Troja in Latium neu aufzubauen. Stattdessen wird der arme Kerl während eines Breakdance-Interludes  zwischen Purcell und Schönberg, dessen Musik von Pawel Mykietyn ziemlich nervte, von der sich gerade eben noch suizidiert habenden und plötzlich wiedererstandenen Dido nebst ihrer treuen Belinda erschossen. Mit derlei Banalisierungen raubt man den großen Figuren der antiken griechischen Tragödie und ihrer einzigartigen Vertonung durch Purcell sämtliche Fallhöhe!

Dass Warlikowski ein handwerklich hervorragender Regisseur ist, der auf dichte und vielgestaltige Weise die Personen zu führen vermag (was insbesondere auf Schönbergs „Erwartung“ zutraf), steht dabei außer Frage, wie auch das raffinierte Bühnenbild und die fantasievollen Kostüme von Małgorzata Szczęśniak, die Lichtgestaltung von Felice Ross und die Choreografie von Claude Bardouil starke optische Reize vermittelten. Die Idee, das Schönberg-Stück mit jenem von Purcell zu verbinden, erwies sich dabei als sinnfällig und spannend, geht es doch hier wie dort um das Verlassenwerden einer hingebungsvoll bis zur Selbstaufgabe liebenden Frau. Bleibt abschließend der Zusatzchor der Bayerischen Staatsoper in der Einstudierung von Sergej Bolkhovets zu würdigen, der homogen in allen Stimmgruppen zu hören war. DER KLASSIKKRITIKER

Premiere am 29. Januar 2023, besuchte Vorstellung im Rahmen der Münchner Opernfestspiele am 22. Juli 2023; weitere Informationen: https://www.staatsoper.de/stuecke/dido-aeneas-erwartung/2023-07-22-1900-13448

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