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JUNGS MIT STARKER STIMME – Christian Thielemann dirigiert Wagners „Liebesmahl der Apostel“ und weitere Raritäten in Dresden

Die Gelegenheitswerke großer Komponisten werden nicht selten despektierlich behandelt. Auf Richard Wagner, der gerne auf jenen „Bayreuther Kanon“ von 10 so genannten „Musikdramen“ reduziert wird, trifft dies in besonderer Weise zu. Dabei umfasst sein Werkeverzeichnis 113 Titel. Dass sich darunter durchaus Kompositionen von Rang und Werthaltigkeit befinden, hat nun Christian Thielemann aus Anlass von Wagners 200. Geburtstag in der Dresdener Frauenkirche deutlich gemacht, als er dort in herausragender künstlerischer Qualität Chor- und Instrumentalstücke zu neuem Leben erweckte, die Wagner zu verschiedenen Anlässen während seiner Zeit als Dresdener Hofkapellmeister komponiert hatte.

Zu seinen damaligen Pflichten gehörte keineswegs nur die Oper. So war er immer wieder auch für kirchenmusikalische Dienste zuständig und leitete obendrein die Dresdener Liedertafel, einen Männergesangsverein, wobei er zugleich wertvolle Erfahrungen für sein Bühnenschaffen sammelte. Noch in den Gralsritterchören des „Parsifal“ zehrte Wagner von seiner, schon in seine Würzburger Zeit zurückreichende Chorpraxis, und die kunstvollen Schichtungen seines Tonsatzes gerade hinsichtlich der Mannenszenen im „Tannhäuser“, „Lohengrin“ oder der „Götterdämmerung“ verweisen auf die Dresdener Jahre.

Dort hatte er vor genau 170 Jahren das „Allgemeine Männergesangfest“ zu betreuen, zu welchem die Königliche Hofkapelle Männerchöre aus ganz Sachsen orchestral begleitete; rd. 1.200 Tenöre und Bässe waren seinerzeit nach Dresden gekommen. Höhepunkt war Wagners Pfingstoratorium „Das Liebesmahl der Apostel“, welches er als „Biblische Scene“ in der Frauenkirche zur Uraufführung brachte. Den Text verfasste er in freier Nachdichtung der Apostelgeschichte, indem er – seinem Dramenentwurf „Jesus von Nazareth“ vergleichbar – seine gesellschaftskritisch-sozialistisch eingefärbte Haltung mit kunstreligiöser Attitüde zu verbinden suchte. Dies sollte Fernwirkung bis zur Abendmahlszene des „Parsifal“ entfalten, welche signifikanterweise mit den Worten „Zum letzten Liebesmahle“ eingeleitet wird.

Auch die „Stimmen aus der Höhe“, die im „Parsifal“ jenen übersinnlichen Raumklang entfalten, verlangte Wagner schon in seinem Dresdener „Liebesmahl“, als er einen Teil seiner Männer  aus der Kuppel heraus singen ließ. Die übrigen wurden gemäß barocker Kirchenmusikpraxis dreichörig links, rechts und mittig über die Empore verteilt, 12 Solo-Bässe übernahmen die Rolle der Apostel als vierter Chor, und gegen Ende trat das Orchester als fünfte Einheit hinzu, um die Ausgießung des Heiligen Geistes durch die neue Klangfarbe zu versinnbildlichen (bis dahin sang der Männerchor a cappella).

Diese komplexe und zugleich mächtige Raum-Klang-Disposition wirkte auch noch nach 170 Jahren imposant und eindrucksvoll. Die Nachfolgerin der einstigen Hofkapelle, die Sächsische Staatskapelle Dresden, widmete sich unter Thielemanns hoch nuancierter Stabführung dem Orchesterpart, und den Vokalteil gestalteten die Herren des Sächsischen Staatsopernchores sowie des Philharmonischen Chores und des Sinfoniechores Dresden, des Dresdener Kammerchores, des MDR Rundfunkchores Leipzig,  des Tschechischen Nationalchores Prag und des Tschechischen Philharmonischen Chores Brünn in der Gesamteinstudierung von Pablo Assante auf grandios differenzierte Weise, wie sich auch die 12 Apostel (Sebastian Gantert, Christian Grygas, Andreas Heinze, Insoo Hwoang, Niccolo Paudler, Oliver Pitt, Bryan Rothfuss, Martin Saul, Philipp Schreyer, Martin Schubert, Holger Steinert und Johannes Wollrab)  als „Jungs mit starker Stimme“ erwiesen.

An weiteren Wagner-Raritäten erklangen in diesem Konzert „Der Tag erscheint“, was sich allerdings noch nicht auf den Beckmesser bezieht, sondern auf ein Denkmal von Friedrich August I. von Sachsen, welches zu Wagners Chorsatz am 7. Juni 1843 im Dresdener Zwinger eingeweiht worden ist, sowie die Trauermusik und der Grabgesang, den Wagner zur Überführung und Bestattung der sterblichen Überreste Carl Maria von Webers 1844 verfasst hatte. Und Wagners ambivalentes Verhältnis zu Felix Mendelssohn-Bartholdy beleuchtete Thielemann mit seiner hinreißend farbenreichen Wiedergabe der „Reformationssymphonie“, die – wie auch später Wagners „Parsifal“ – auf das an hohen Festtagen in der katholischen Liturgie teilweise bis heute noch gesungene „Dresdener Amen“ klanglichen Bezug genommen hatte. Ein großartiges Konzert also zu Wagners 200. Geburtstag sowohl hinsichtlich des Repertoirewerts als auch der interpretatorisch vollendeten Leistung! DER KLASSIKKRITIKER

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